„Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt.“
Ich musste an das Brecht-Zitat denken, als ich mit Gunnar auf der Veranda saß. Aber hier in Schweden konnte man ohne schlechtes Gewissen über Bäume reden, es war die Zeit von Olaf Palme.
Es war ein sonniger Junitag, die skandinavische Sonne legte ihre Wärme wie eine wohltuende Hand auf unser Gesicht, und in der Ferne glich der glitzernde See einem Augenschlitz unter dem dunklen
Lid des Waldes.
Von der Linde kam bisweilen ein Dufthauch der Blüten, der Baum schien zu brummen, das waren die geschäftigen Bienen bei ihrer Arbeit. Gunnar hatte mir die Linde vor gut 20 Jahren geschenkt.
Gemeinsam pflanzten wir sie an die Grundstücksgrenze zum Feldweg, den der Bauer für seine Felder benutzte.
Und jetzt saßen wir da wie zwei Väter, die wohlwollend ihr erwachsenes Kind begutachteten
„Erinnerst du dich", sagte ich, „es war im zweiten Jahr, da hatte sie jemand mit der Axt gespalten. Ich hab dich gerufen und du hast sie oben zusammengebunden. Sieh sie dir jetzt an: Du hast sie
gerettet, Gunnar.“
Er lächelte und dann sagte er etwas, was mich keineswegs überraschte: „Redest du mit ihr?“
Es war allen bekannt, dass er mit den Tomatenpflanzen in seinem Treibhaus sprach, und jedes Mal brachte er eine Menge der prächtige Früchte dem Dorfhändler zum Verkauf.
„Nein", antwortete ich, „aber ich kann sie hören. Ihr Gerede klingt manchmal wie Straßenverkehr, aber meistens rauscht es wie ein Wasserfall."
„Ist sie nicht herrlich?" murmelte er. „Denk dir, wenn jeder Mensch ein Blatt am Baum wär, dann wär der Stamm das Leben. Und im Wind bewegen sich alle gleich, es ist eine große Einheit zwischen
den Blättern."
„Ja, aber nicht bei uns Menschen!" sagte ich. „Da will jeder mehr haben als der andere, besser leben als der andere, mehr sein als der andere. Dabei ist es überall dasselbe Leben, ob in schwarzer
oder weißer Haut, ob im Fleisch des Reichen oder in den Knochen des Armen. Das sollten wir doch endlich kapieren.“
Eine Weile sah Gunnar mich schweigend an, dann kniff er ein Auge zu, stieß seinen harzigen Finger zweimal gegen meine Schulter und sagte: „Weißt du was? Du bist ein Kommunist.“
Dann kamen wir wieder auf die Linde zu sprechen. Wer sie hatte töten wollen, konnten wir nicht erfahren. Auch über den Grund seiner Tat rätselten wir.
„Hör mal", sagte ich. „ich glaube, ich weiß jetzt, wer das war", und erzählte, was ich vor ein paar Tagen erlebt hatte.
Durchs Fenster sah ich einen kleinen alten Mann wie ein Rumpelstilzchen zwischen den Bäumen herumhuschen, wobei er gelbe Stangen in den Boden steckte. Sofort ging ich hinaus und fragte, was er da
täte. Ich musste neben ihm herlaufen, weil er seine Arbeit nicht unterbrach. Er lasse Fichten in seinem Wald fällen und grenze mein Grundstück ab,
stieß er zwischen den Zähnen hervor.
Woher er meine Grenze so genau kenne? fragte ich.
„Dein Grundstück gehörte mal zu meinem Wald.“
Ich hatte kein gutes Gefühl und als er verschwunden war, radelte ich zur Nachbarin und fragte, wer dieser Mann gewesen sei. Sie kenne ihn, sagte sie. Er sei der reichste Bauer der Gemeinde,
besitze fast alles in der Umgebung und wegen seines Geizes sei er bei allen unbeliebt.
Misstrauisch geworden, ging ich die Grenzen meines Grundstückes ab, von Grundstein zu Grundstein. Tatsächlich, die meisten Stäbe standen über einen Meter tief auf meinem Grundstück. Ich setzte
sie zurück und blieb so im Besitz von einem Dutzend großer Fichten.
„Bestimmt war es dieser Bauer, der wollte eigentlich mich weghaben aus seinem Wald.“
„Und das“, sagte Gunnar und nickte bedeutungsschwer, „das ist ein Kapitalist!“
Die Jahre vergingen. Olaf Palme wurde ermordet, mein Freund starb, auch der geizige Bauer ist schon lange tot, ich musste meine Hütte verkaufen und heute ist die Zeit wieder wie zu Brechts Zeiten. Warum rede ich dann noch über einen Baum? Weil das Gespräch in einer Zeit und in einem Land stattfand, wo das Reden über Bäume noch nie ein Verbrechen war, lang ist es her.