Das Schlimmste in der Großstadt waren die ständigen Wiederholungen. Trotz aller Aufgeregtheit: wirklich Neues gab es nicht. Sein Leben verlief nicht anders. Dreimal verheiratet, dreimal
geschieden. Mit 50 sagte er sich: Das reicht. Er verkaufte seine Werbeagentur und siedelte nach Schweden in seine Ferienhütte. Auch hatte er schon lange vor, einen Roman zu schreiben.
Doch zum Schreiben kam er nicht, jedenfalls nicht sofort. Als er vor über 25 Jahren die Hütte kaufte, konnte er von der Terrasse aus weit nach Westen sehen, bis zu den Wäldern jenseits des Sees.
Jeder, der einmal in der Hütten wohnen durfte, bewunderte den Ausblick, vor allem bei Sonnenuntergang.
Mittlerweile waren Gestrüpp und Bäume hochgewachsen, die den Blick behinderten, vor allem im Sommer bei dichtem Laub.
Erst jetzt griff er zu Axt und Säge und nahm die Büsche und die kleine Bäume weg. Nur einen Baum fällte er nicht, eine Birke. Er mochte der Birken wechselndes „Make-up“: Zur Saisonbeginn legen
sie ein bräunliches Rouge auf, gleich danach greifen sie zur gelben Puderdose und bepudern sich so heftig, dass sie nach kurzer Zeit in einer gelben Staubwolke stehen. Weil die anderen Bäume
ähnliches tun, schminken sie sich rasch mit einem hellen Grün und zeigen aufreizend im Sonnenlicht, was die anderen nicht haben: einen schlanken, weißen Körper. Dann, sonnensatt und reifer
geworden, verhüllen sie ihn mit ihrem eigenen Schatten und geben ihrem Grün eine bläuliche Tönung, als schüfen sie sich ihre eigene Nacht, um auch tags träumen zu können. So stehen sie lange
Zeit, dann wachen sie auf und rüsten sich zur Ballsaison: Sie beginnen mit ein paar Goldsträhnen hier und dort, doch dann - wie im Übermut - tauchen sie jedes Blatt in Gold, in feinstem Blattgold
stehen sie da. Danach tun sie nichts mehr. Sie lassen sich abschminken vom Wind wie eine gelangweilte Diva nach ihrem großen Auftritt.
Also bitte, bleib stehen. Aber verlang keine Gage.
Nachdem er auch noch den niedrigen Bewuchs gerodet hatte, setzte er sich auf die Terrasse, zündete sich eine Pfeife an und sah mit großer Ausdauer zum See. Er war jetzt überzeugt, dass es
nirgendwo auf der Welt einen besseren Platz gab als hier und als er den Blick auf die Birke gegenüber richtete und sie genau betrachtete, sagte er halblaut: „Und es gibt keinen Baum, der so schön
ist wie du..“
Da er jetzt täglich ihr gegenüber sitzen würde und sie miteinander sozusagen kommunizierten, wollte er ihr einen Namen geben. Vielleicht Birkin? Nicht doch, das war ein Haarpflegemittel. Nein, er
nannte sie Birgit.
„Hej Birgit! Was meinst du dazu?“
Die Blätter bewegten sich im Wind, er hörte ein Flüstern, immerhin.
Es war weit im Frühling, als auf Seite 18 des Romans der Held endlich in Erscheinung trat, dort blieb er stehen, weil ihm der Namen fehlte, den sollte er unverzüglich bekommen Aber dann war auf
einmal Mittsommerzeit, und der Mann in der Hütte hatte sich zweifellos in die Birke verliebt.
Sogar nachts blieb er auf der Terrasse sitzen. Diese Mittsommernächte! Aus dem Tagtraum treibt man in den Nachttraum wie ein Boot von einem Ufern zum andern, man weiß nie, ist es schon Tag oder
noch Nacht? Mit freudiger Unruhe geht man umher, in Erwartung eines geheimnisvollen Boten und eines Briefes, darin steht, man hätte drei Wünsche frei, man unterschreibt mit seinem Blut und
wundert sich nicht mal, dass es grün ist.
Eines Vormittags saß er wieder auf der Terrasse und rauchte seine Pfeife. Sein Blick wanderte am Waldrand entlang zum See, über die Wiese am Ufer und kehrte zurück in den Vordergrund zu der
Birke. Er betrachtete sie prüfend, vor allem die Größe. Das war interessant. Die Luft flimmerte vor Hitze und der Baum schien geschrumpft zu sein, eine verzerrte Luftspiegelung. Am kühlsten war
es noch in der Hütte. Wegen der Hitze beschloss er, schon jetzt seinen Spaziergang zu machen und nicht erst wie sonst am Nachmittag. Abends war es wegen der Mücken ganz unmöglich.
Auf dem Weg durch den Wald kam er an gefällten Fichten vorbei, abgeästet und zum Abtransport in Stücke gesägt. Ihr harziger Geruch tat ihm gut, seine ersten Ferien in diesen Wäldern kamen ihm in
den Sinn, er blieb stehen, saugte die Ausdünstung des schwitzenden Holzes intensiv ein. Auf dem Rückweg, aus dem Wald tretend, schlug ihm trockene, heiße Luft von den Weizenfeldern. In etwa
hundert Meter Entfernung erblickte er seine Hütte. Die Birke war tatsächlich kleiner geworden: Statt wie sonst über das Hüttendach zu ragen, reichte der Baumwipfel gerade bis zur Dachrinne. Das
war keine Täuschung. Der Baum musste in der Hitze geschrumpft sein.
Trotz Hitze lief er schneller, angekommen stellte er sich vor den Baum. An einigen Stellen pellte sich die Rinde vom Stamm. Man hatte ihm gesagt, es handele sich um ein natürliches Verhalten des
Baumes, trotzdem litt er beim Anblick der teilweise eingerollten Hautstücke. Regungslos hingen die Zweige. Er riss ein Blatt ab, untersuchte es. Sonnenwarm, lippenweich, grün.. Alles wie immer.
Aber statt 5 m betrug die Größe der Birke nur noch 3 m.
Das war unbegreiflich, er wollte sich wieder auf die Terrasse setzen und darüber nachdenken. Doch dann blieb er verdutzt stehen. Der Baum war schon wieder ein Stück kleiner geworden. Jetzt konnte
er das Schrumpfen sogar mit den Augen verfolgen.
Sein Herz begann stark zu klopfen. Entweder war etwas mit seinen Augen nicht in Ordnung oder in seinem Kopf stimmte etwas nicht. Sein Atem ging schwer, er wagte nicht mehr zur Birke zu sehen, er
suchte Kühle und legte sich in der Gästekammer auf eines der beiden schmalen Betten. Außerdem fehlte ihm Schlaf. Zur Mittsommerzeit schlief er immer zu wenig.
Aber der Schlaf kam nicht. Nach einer Stunde des Hin- und Herwälzens stand er auf, öffnete langsam die Tür, spähte durchs Küchenfenster - und zuckte zurück. Jetzt war die Birke höchsten
zwei Meter groß und ihre Form hatte sich verändert. Sie hatte Äste und Zweige an den Stamm gelegt und bekam Rundungen.
Jetzt wurde er neugierig. Er trat ans Fenster und beobachtete sozusagen mit wissenschaftlichem Interesse die Verwandlung des Baumes. Er formte sich zu einem Körper. Unglaublich! Das wurde ja ein
weißer, nackter Frauenkörper . Er schrak auf: Ein Auto fuhr vorbei zum See. Wenn die Insassen diese Frauenstatue sahen.. was könnten die denken! Hastig griff er vom Sofa die rote Schafwolldecke,
rannte hinaus und warf sie über die Statue.
Und dann schloss er sich in der Toilette ein. Auf der Ostseite der Hütte gelegen, auf der Waldseite, war sie zu jeder Zeit kühl, auch in der größten Sommerhitze, seit ewigen Zeiten befand sich
hier alles still und unverrückt auf seinem Platz: Der Spiegelschrank an der Wand, das Ablagebrett darunter mit seinem Rasierzeug, der Haarbürste, Kamm, Hautcreme, darunter das Waschbecken. Neben
der Tür ein kleines Hängeregal mit Papierrollen, einer Spraydose mit Mücken- und Zeckenschutz für die Haut, dem elektrischen Haarschneideapparat, unter dem kleinen Fenster das Hakenbrett mit den
Handtüchern, oben unter der Decke die Stange für zu trocknende Wäsche. Und dort der Klositz. Darauf setzte er sich.
Schön. Jedes Ding war das, was es von Anfang an war. Seine Nerven beruhigten sich. Schwedische Freunde hatten ihn gewarnt. Waldeinsamkeit schlägt aufs Gemüt, verwirrt die Sinne, führt zu
Einbildungen. Dafür gab es sogar einen Namen: Lappenkrankheit. Jetzt hatte es ihn erwischt. Selbstverständlich war alles nur eine Halluzination.
Da schlug die Verandatür. Wer zum Kuckuck war jetzt gekommen? Vorsichtig schlich er in die Küche, spähte um die Essecke. So viel er sehen konnte, war niemand da - und draußen waren Figur und rote
Decke verschwunden. Na bitte! dachte er und lachte auf. Selbst die Decke war nur Halluzination! Bestimmt lag sie noch auf dem Sofa.
Er drehte sich um und da saß auf dem Sofa, eingehüllt in der roten Wolldecke, eine junge Frau, die ihn anlächelte.
Sein Schatten fiel auf sie, er trat ein wenig zur Seite, jetzt leuchtete ihr Gesicht auf, grüne Augen hatte sie. Über die linke unbedeckte Schulter rollte dunkelbraunes Haar.
Sie erinnerte ihn - mit Ausnahme der Haare - an eine junge Frau aus dem schwedischen Fernsehen: Sie tanzte, ihre blonden Haare flogen bei jeder Kopfbewegung. Am Schluss wandte sie sich an die
Zuschauer, breitete die Arme aus und lächelte. Alles ohne Worte und vollkommen still. Ein Pausenfüller
„Wer bist du?“ fragte er. In Schweden duzt man sich, er hätte lieber „Sie“ gesagt, aber auf das schwedische Wort kam er nicht. Sie machte mit der Hand ein paar Bewegungen. Dabei glitt die Decke
auch von der anderen Schulter. Die Frau war ja vollkommen nackt! Er stürzte ins Schlafzimmer, riss ein weißes Oberhemd vom Bügel, zerrte seine gelbe Jogginghose heraus und warf ihr beides in den
Schoß.
„Anziehen!“ Und als wäre sie nicht nur stumm, sondern auch taub, demonstrierte er es durch entsprechenden Körperbewegungen. Sie gehorchte, schlüpfte in die Hose, dann ins Hemd, alles mit großer
Geschicklichkeit. Dabei gab sie ein seltsames Geräusch von sich, eine Art Fauchen, es sollte wohl ein Lachen sein, denn sie warf ihm belustigte Blicke zu.
Darauf zog sie ihn zum Fenster und zeigte auf den Platz, wo einmal die Birke gestanden hatte. Sie deutete auf sich.
Das glaubte sie doch selber nicht, dass er darauf reinfiel! Schon beim Kleiderholen war er darauf gekommen. Da erlaubte sich einer einen Spaß mit ihm. Dieser verdammte TV-Quatsch mit der
versteckten Kamera, selbst die Schweden konnten es nicht lassen. Man hatte ihm die Birke weggenommen und dafür die nackte Frau hingestellt. Dass er die Decke über sie geworfen hatte, war bestimmt
schon ein Riesenlacher in ganz Schweden. Na bitte, sie können noch mehr haben! Mit übertriebenem Entsetzen warf er beide Hände vor die Augen, schielte durch die Finger, ließ die Hände fallen,
schnappte nach Luft, schien der Ohnmacht nah und sagte dann laut und ruhig: „So, und jetzt zeigt mir eure Kamera...“
Nichts. Er wartete. Sie saß im Sessel, in seinem Hemd und seiner Hose, aber barfüßig, den Mund leicht geöffnet, als wäre sie ein äußerst interessierter Zuschauer seiner Aufführung.
Vielleicht verstand man kein Deutsch? Er wiederholte den Satz auf Schwedisch. Auch dann passierte nichts. Er wurde jetzt ärgerlich, sehr ärgerlich. Und weil sich vom Fernsehteam keiner zeigte,
trat er vor die Frau und weil er so erregt war, konnte er nur flüstern:
„Nun hör mal gut zu! Ich weiß doch, dass du hier ein Spielchen treibst. Also kannst du damit aufhören...“ Mit drohendem Blick sah er um sich und sagte laut, damit es ganz Schweden hörte: „Im
Übrigen erhebe ich Einspruch gegen den Eingriff in meine Intimsphäre!“
Sie lächelte. Er kannte diese Art Lächeln. Es war werbemäßig! In jedem Werbespot, in jeder Anzeige grinsten so die Menschen, dafür wurden sie bezahlt.
Noch immer nichts. Zum Teufel, was wird hier gespielt?
Erschöpft setzte er sich in den Schaukelstuhl vor den Kamin.
Die Füße auf die Schaukelspitzen gesetzt, wippte er nach hinten und verharrte in dieser Stellung. Wie früher in seinem Büro, bat er sich Ruhe aus. Keinen Anruf. Keine Fragen, keine Türbewegung!
Kreative Stille erbat er sich.
Und er dachte: Wie ist das möglich? Eine Birke als Frau? Das ist doch verrückt! Andererseits.. Was ist heute nicht möglich? Ja, auf der ganzen Welt geschahen Dinge, die man früher nicht für
möglich gehalten hatte. Beispiele? Bitte sehr: Aus einer Menschenzelle pflanzen sie etwas in eine Maus und aus dem Mausrücken wächst die rosige Ohrmuschel eines Menschen. Verrückt, was? Ja! Aber
Wirklichkeit! Und noch etwas: Aus einer einzigen Schafzelle entsteht ein komplettes neues Schaf. Zauberei? Ach was, Wirklichkeit. Und kürzlich sind sie bis zum Anfang des Universum vorgestoßen
und das mit nichts als einem Teleskop.
Wer das begreift, wird auch das hier begreifen. Zugegeben, er begriff es nicht, weder das Ohr auf dem Rücken einer Maus noch die Birkenverwandlung. Aber er begriff die Zeit. So ist der Stand der
Dinge, damit muss man leben. Fazit: Eine Frau als Birke, beziehungsweise eine Birke als Frau ist durchaus zeitgemäß. Morgen werden es die Wissenschaftler bestätigen. Nur wäre es ihm lieber
gewesen, die Wissenschaftler hätten es vor ihm entdeckt. Zumindest hätten sie ihn fragen können, ob er damit einverstanden wäre, das erste Opfer einer Entdeckung zu sein.
Hätte er abgelehnt. Ruhe wollte er haben. Deswegen war er schließlich hier. Also, rein wissenschaftlich gesprochen: Wie bekommt man eine Frau, die eine Birke ist, wieder dahin, wo sie eine Birke
ist? Oder, sofern das aus technischen Gründen nicht mehr möglich ist, wie entfernt man sie?
Einfach vor die Tür setzen? Eine nackte Frau? Unmöglich. Das Dorf hätte einen Skandal. Und in seinen Sachen? Man würde sofort sehen, von wem sie stammten.
Andererseits.. wer zwang ihn, sofort zu handeln? Ansehnlich war sie, sogar hübsch, jung war sie und ihre Schweigsamkeit war auch kein Nachteil. Also, was störte ihn? Zum Handeln blieb noch Zeit
genug. Spielen wir das Spielchen weiter.. Mittsommer war es, Zeit für Kärlek, wie die Schweden sagen, und Kärlek ins Deutsche übersetzt, heißt: Liebesspiel. Na bitte.
Und so fügte sich alles zusammen. Gute männliche Logik.
Abendbrot. Er deckte den Tisch, Brot, Margarine, Marmelade, Tee, Milch. Sie aß nichts. Was denn, nur trinken? Bitte, da ist Tee, da ist Milch. Sie schüttelte den Kopf, griff zur Vase, nahm den
Flieder heraus und trank das Wasser.
Er riss ihr die Vase aus der Hand, warf den schon längst verwelkten Flieder in den Komposteimer und reichte ihr ein Glas frisches Wasser. Sie fauchte ihr Lachen, umarmte ihn - für eine Sekunde
spürte er ihren Körper, einen wirklicher Menschenkörper, sogar eindeutig einen Frauenkörper - dann saßen sie sich wieder gegenüber und blickten sich an.
Abends wollte er den Kamin anmachen. Als er zu den Birkenscheiten griff, drang ein furchtbarer Laut aus ihrem Mund. Mit vorgestreckten Armen stellte sie sich vor den Kamin, in den Augen eine
Wildheit, die ihn überzeugte. Schon gut, er verstand ja: kein Birkenholz verfeuern. Womöglich war das ihr Vater. Und hatte er vorher noch glauben können, es handelte sich um eine richtige Frau,
so wusste er jetzt wieder, sie war eine Birke.
Der See war ein schmales silbernes Amulett, am Horizont wanderte eine geöffnete Wassermelone, gelb und grün, über eine schwarze, gezackte Wand Richtung Osten. Nacht. Mittsommernacht.
Er richtete ihr das Bett im Gästezimmer, legte sich darauf und zeigte ihr, was sie darauf zu tun hätte. Birken kennen das ja nicht.
Wenig später lag er in seinem Bett, dekoriert mit seinem weinroten Pyjama, und blätterte in einer Zeitschrift, doch meistens lauschte er. Alles blieb still, langsam wurde er müde, nach dem
dritten Durchblättern warf er die Zeitschrift beiseite, knipste die Leselampe aus und schlief ein.
Als er am Morgen erwachte, lag sie neben ihn. Wann war sie gekommen? Zum ersten Mal verfluchte er seine Vorliebe für breite Betten. Oder war doch was gewesen? Eine Ahnung war da. Etwas Warmes,
Wohliges rekelte sich in seinem Körper, ein Nachklang von Erregung. Reste eines Traums?.. Hol’s der Kuckuck, er konnte sich nicht mehr erinnern!
Sie schlief, mit leicht geöffnetem Mund, die Haare wirr über das Gesicht geworfen. Vorsichtig schob er die Strähnen hinter ihr Ohr. Sie war höchstens 25, nun ja, so alt musste die Birke wohl
sein, denn als er das Grundstück kaufte, stand dort noch nichts. Und dann hob er die Decke. Sie war nackt. Und er auch. Also doch! Noch immer hielt er die Decke hoch und betrachtete sie. Ganz
weiß war ihr Körper. Und er dachte: Wo warst du im Winter? Versteckt im Schnee? Da! Ein grüner Augenaufschlag, mit einem Sprung war sie aus dem Bett, splitternackt lief sie in ihr Zimmer. Gott,
wie süß.
Während er frühstückte, hörte er sonderbare Geräusche aus ihrem Zimmer, ein Schnaufen, nein, eher ein Rauschen, mal lauter, mal leiser, auf einmal ein Poltern und dann... Stille. Seltsam. Er
wollte schon nachsehen, da kam sie heraus, in den Händen etwas Grünes. Ihr rosiges Gesicht strahlte, sie trug seine Jeans und seinen blauen Pullover. So weich und locker lag der Pullover auf
ihren Hüften, dass er nach ihr greifen musste - aber sie wich ihm aus und.... Nanu?
Verblüfft beobachtete er, wie sie vom Küchenschrank drei Blumentöpfe herunterholte. Mit ihnen lief sie nach draußen. Durch das Fenster sah er, wie sie in jeden Topf eine grüne Pflanze einsetzte
und ihn mit Erde auffüllte. Sie kam zurück, zeigte ihm stolz ihre gärtnerische Leistung und platzierte die Töpfe auf seinen Schreibtisch, dicht ans Fenster. Und jetzt fiel ihm auch ein, was es
war: Schösslinge!
Einmal hatte er einen Kastanienschössling eingepflanzt. Eine Kastanie wäre ein Prachtbaum unter den Föhren und Fichten gewesen, aber sie schlug nicht an, der Boden war nicht geeignet für
sie.
Also Schösslinge, präzise: Birkenschösslinge. Und, zweifellos, keine gekaufte. Es waren ihre!
Was sollte das heißen? Mindestens ein Jahr braucht der Samen, um Keimling zu werden und dann noch einmal zwei bis drei Jahre um ein Schössling zu sein. Und sie schaffte es in Minuten!
Andrerseits, hat man einmal akzeptiert, dass ein Baum zu einer Frau wird, ist alles Weitere folgerichtig und nicht zu beanstanden. Nur etwas irritierte ihn. Hatte er etwas damit zu tun? Der
Gedanke war sonderbar. Sah er das richtig? War er jetzt Vater geworden? Er fröstelte.
Bei genauerer Betrachtung erwies es sich als halb so schlimm. Niemand würde seine Vaterschaft erfahren, es blieb sein Geheimnis. Ja, langsam befreundete er sich sogar mit dem Gedanken, Vater von
jungen Birken zu sein. Das lag ganz auf seiner Linie. Schon immer war er für die Natur. In der Stadt hatte er sich für die Dachbegrünung eingesetzt. Und Birkenschösslinge waren durchaus niedlich,
man konnte sie als Zimmerdekoration verwenden. Bloß auf dem Schreibtisch hatten sie nichts zu suchen!
Und da kam sie auch schon mit der Kaffeekaraffe und goss Wasser in die Töpfe, zugegeben vorsichtig, nur hatte er seine Erfahrung: Irgendwann läuft Wasser aus und über den Tisch und dann in seine
Papier. Er drängte sie beiseite, ergriff einen der Töpfe, er hörte sie aufstöhnen und spürte die Kanne an seiner Schläfe.
„Verdammt, “ sagte er, „ich will den Topf doch nur woanders hinstellen. Aufs Regal!“
Sie schüttelte den Kopf, zeigte nach draußen zum Himmel.
Ja. Licht, einverstanden. Er rieb sich die Schläfe. Ein Wunder, dass die Karaffe noch heil war. Schließlich schleppte er aus dem Schuppen zwei aufklappbare Holzböcke heran, stellte sie vor das
südliche Fenster und legte eine ausrangierte Tür darüber: „Da! Da stellst du sie hin! Hier gibt es sogar noch mehr Sonne!“
Sie küsste ihn. Selten hatte er so weiche Lippen an seinen gefühlt. Er zog sie an sich. Ein warmer, biegsamer Körper. Vielleicht könnte man mit ihr leben?
In der Nacht wartete er auf sie, aber sie kam nicht. Und als er am Morgen erwachte, lag sie nicht neben ihn.
Als er sich rasierte, hörte er wieder diese seltsamen Geräusche in ihrem Zimmer, diesmal früher als gestern. Wieder kam sie mit Schösslingen heraus und holte sich die restlichen Blumentöpfe vom
Küchenschrank, vier waren es. Na, das war‘s. Mehr leere Blumentöpfe hatte er nicht.
Beim Aufbrühen des Kaffees riss das Filterpapier, er musste neuen Kaffee aufsetzen. Während er die Karaffe spülte, kochte die Milch über. Was für ein Tagesanfang.
Indessen saß sie am Tisch, schaute mit wachen Augen zu, auf jede Handbewegung achtend. Plötzlich kam sie, nahm ihn die Karaffe aus der Hand und mit wenigen Handgriffen hatte sie alles wie sich
gehört in der Kaffeemaschine aufgebaut. Mit einer Geste, er solle sich hinsetzen, verscheuchte sie ihn, er gehorchte. Wenig später hatte sie ihm ein tadelloses Frühstück serviert. Vielleicht
konnte man doch mit ihr zusammenleben?
Am nächsten Morgen wachte er auf und mit einem Blick erfasste er: allein. Und er hatte ein Stunde länger als sonst geschlafen. Und das hasste er: Sein Stundenplan geriet durcheinander. Und seit
drei Tagen hatte er keine Zeile mehr geschrieben!
Auf einmal polterte es in nebenan in der Abstellkammer.
Er riss die Tür auf: „Was suchst du denn da?“
Sie zeigte auf ihre Schösslinge.
„Hier gibt es keine Blumentöpfe!“
Sie machte eine verzweifelte Geste.
Er seufzte, dann sagte er: „Draußen im Schuppen..“
Zurück ins Bett und unter die Decke gekrochen, in die eigene Wärme geflüchtet. Hielt nicht lange, er brauchte schließlich seinen Morgenkaffee.
Er beruhigte sich mit dem Gedanken, dass sie nur einmal bei ihm gewesen war. Also musste die Produktion enden. Er irrte sich.
Seine Hütte wurde zum Treibhaus, an jeder sonnigen Stelle grünte es, sogar auf den Regalbrettern, wo sonst Buchrücken malerisch in der Sonne glänzten - Himmel, wo waren seine Bücher? Jetzt erst
entdeckte er, dass sie die Bücher neben den Kamin gestapelte hatte. Und da keine Blumentöpfe mehr vorhanden waren, benutzte sie Schüssel, Suppentassen und Einmachgläser. Und dann dieser
widerliche feuchte Geruch von den Ausdünstungen der Pflanzen! Er konnte lüften, so oft er wollte. Nicht wegzukriegen.
Er zählte er die Schösslinge - 43! Gab es überhaupt noch einen sonnigen Platz ohne Pflanzentopf? Nein, er fand keinen und atmete auf. Großartig. Schatten mochte sie ihren Schösslingen nicht
zumuten. Also Ende der Produktion.
In angenehmen Stumpfsinn versunken, leicht im Schaukelstuhl wippend, bemerkte er nicht, dass sie nach draußen ging. Auf einmal drang metallenes Klappern an sein Ohr, wie wenn ein Spaten gegen
Stein stößt. Es kam von der Südseite der Hütte. Er blickte durch das Südfenster. In seiner Wiese hob Birgit Löcher aus und setzte Schösslinge ein. Sie waren schon um das Doppelte gewachsen, das
war ihm ganz entgangen.
Eine halben Stunde späte reckten sechs kleine Birkenbäumchen ihre Wipfel über das Gras, Abstand jeweils zwei Meter. Er hatte keine Kraft mehr, um sich zu ärgern.
Als sie in die Hütte kam und sich die Hände wusch, ging er hinaus. Etwas zog ihn hin. Einen Baum pflanzen war schon was. Man mogelte seinen Namen sozusagen in die Schöpfungsgeschichte. Hätte sie
ihn um den Dienst gebeten, wäre er sicher nicht abgeneigt gewesen. Aber sie fragte ja nicht. Nie fragte sie.
Vor einem Bäumchen hockte er sich hin. Die Blätter waren eingerollt, behutsam begann er eines zu öffnen, da entfaltete es sich von selbst und was er dann sah, erschütterte ihn. Er fiel ins Gras.
Im Sitzen sah er sich das Blatt noch einmal an. Es stimmte! Zwar sah die Aderung auf dem Blatt erst nach einem Gekritzel aus, aber wenn man sie länger betrachtete. Er müsste sich sehr irren, wenn
das nicht sein Gesicht war! Aufgeregt entrollte er ein Blatt nach dem anderen. Hier wie dort das gleiche Vexierbild mit seinem Gesicht. Mal lachend, mal ernst, mal schlafend, mal vergrämt. Ja!
Einmal sah er sogar ausgesprochen dumm aus. Das Blatt riss er ab. Er lief zu den anderen Bäumchen. Das Gleiche.
Das war kriminell. Woher nahm sie sich das Recht? Zugegeben, die erste Nacht. Er leugnete es nicht, obwohl.. Hätte sie ihm auf die Folgen hingewiesen, hätte er doch niemals.. Nein, niemals.
Wirklich nicht. Und warum konnte sie statt seines Gesichtes nicht eine seiner Charaktereigenschaften nehmen? Birken mit Intelligenz zum Beispiel. Oder sprechende.. In diesen Fällen hätte er
womöglich ein Auge zugedrückt. Nein, hier gab es kein Pardon, hier mussten Maßnahmen ergriffen werden. Er klopfte die Pfeife auf dem Terrassengeländer aus und ging hinein.
Sie war beim Ausfegen der Hütte, denn bei allem, was sie tat, vergaß sie nie die Hausarbeit. Er nahm ihr den Besen weg und erklärte:
„Wer gibt dir das Recht, mein Gesicht abzudrucken? Hast du noch nie etwas von einem Copyright gehört?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Ich will.“ fuhr er streng fort, „dass du das sofort änderst. Sämtliche Blätter mit meinem Gesicht sind zu entfernen. Wenn du es nicht tust, dann werde ich es tun!“ Und da schlug sie ihm vor die
Brust, er packte ihre Fäuste und küsste ihren zuckenden Mund, der sich sofort beruhigte, weich wurde, wie übrigens auch ihr ganzer Körper. Sie waren schon an der Tür zu seinem Zimmer, da riss sie
sich los und lief davon.
„Da haben wir den Salat“, dachte er. „Sie hat mich verhext!“ Er ging ins Zimmer, warf sich aufs Bett.
Plötzlich eine Männerstimme. Sein Nachbar! Er sprang auf. In der Hütte war sie nicht. Sein Nachbar musste ganz in der Nähe sein. Da sah er sie: Sie stand vor der Terrasse, reichte dem alten Mann
zwei Birkentöpfe, aber der schüttelte den Kopf und versuchte ihr zu erklären, dass er schon genügend Bäume auf seinem Grundstück hätte.
„Sie ist taubstumm!“ Er war auf die Terrasse geeilt. „Sie ist behindert!“
„Jaso.. deswegen.“ Die flinken Augen seines Nachbarn huschten hin und her. Klein war er, schon über achtzig, aber ein heller Kopf, und der Deutsche auf der Terrasse konnte sehen, was er jetzt
dachte.
„Sie ist meine Nichte“, sagte er hastig, und kam die Treppe herunter. „Sie macht Ferien.“
„So. Ferien macht sie. Jaha, das ist eine gute Zeit, um Ferien zu machen.“ meinte der Alte freundlich. „Ich bin bloß gekommen, um dir die Post zu bringen. Und weil du seit einer Woche nicht mehr
am Briefkasten warst, da dachte ich, es könnte ja was passiert sein...“
„Nein, es ist nichts passiert. Nur der Besuch..“
„Jaha, verstehe...“ Der Nachbar nickte, zog die rechte Schulter ein. „Also, einen schönen Tag auch..“ Er machte im Stehen eine Drehung und stapfte davon.
Sie stand noch immer mit den Töpfen, er riss sie ihr aus den Händen und schleuderte sie in den Wald. Da heulte sie auf, aber mehr wie ein klagender Wind, der Nachbar war schon zu weit weg, um es
zu hören. Sie lief zu der Stelle, wo die Töpfe zerbrochen waren, und mit einer Zärtlichkeit, die ihn anwiderte, hob die Schössling auf und legte sie an ihre Wange.
Sie schwieg von Natur aus, jetzt schwieg auch er. Aber er war hellwach, witterte überall eine Gefahr. Auch sie behielt ihn im Auge, viel besser als er. Sie konnte nämlich mit dem Rücken gucken.
Darüber gab es keinen Zweifel. Wenn er sich nach rechts oder links bewegte, ging ihr Rücken mit, er sah es ganz deutlich.
Und dann passierte es doch. Ein Fahrrad klingelte und eine fröhliche Frauenstimme rief ihn, er lief zum Fenster. Herrje, er hatte sie völlig vergessen.
Im Dorfladen waren sie sich begegnet. Als er einmal den Text einer Konserve nicht übersetzen konnte, half sie ihm. So ungezwungen nahm sie ihm die Dose aus der Hand und ihr Gespräch war so
locker, dass er sie spontan zu sich einlud. Während ihres Besuches gab es keinen Augenblick der Verlegenheit. Sie blieb bis zum Morgen. Danach trafen sie sich regelmäßig. Nie hatte er gefragt, wo
sie wohnte und ob sie verheiratet war. Auch sie fragte nicht, umso unbekümmerter vollzog sich ihr Zusammensein.
Diesmal war alles anders. Er musste Birgit verstecken und zwar weit weg. Hastig schob er sie in sein Zimmer und schloss sie ein.
Saphirblaue Augen hatte die Frau. Als er sagte, es täte ihm leid, aber er müsse nach dem Kaffee unbedingt an seinen Roman weiter schreiben, da dunkelten ihre Augen, aber sie sagte nichts.
Zwar hatte er die Zimmertür verschlossen, die Außentür aber vergessen, und so konnte es passieren, dass Birgit plötzlich draußen am Fenster auftauchte. Die Frau hatte sofort ihren Blick von ihm
abgewendet und auf Birgit gerichtet. Diese hatte sich seiner Lieblingssachen bedient: sie trug sein blaukariertes Flanellhemd, nur wenig zugeknöpft, und die gelbe Jogginghose war vorne mit einer
Schleife nicht sehr festgebunden, ihre Füße waren nackt. Nachdem sie auch seine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte, stellte sie die Beine dicht aneinander und breitete langsam die Arme aus,
bis sie waagrecht abstanden. Falls sie eine Vogelscheuche darstellen wollte, dann verfehlte sie ihren Zweck beträchtlich. Innerhalb weniger Sekunden setzten sich gut vierzig Vögel auf ihre Arme.
Darauf ließ sie die Arme fallen, die Vögel stoben davon und auch sie huschte aus dem Fensterbild, aber nicht nach rechts zur Straße, sondern nach links, dort, wo sich der Eingang zu seinem
Schlafzimmer befand.
Wortlos stand die Frau auf. Nichts schien sie zu verwundern. Er selber staunte noch mit offenem Mund, als die Frau schon davon radelte.
Jetzt endlich begriff er.
Er ging auf die Terrasse, warf sich in den Klappstuhl und starrte in die Ferne. Sie war weit weg, die Ferne.
Sie muss verschwinden. Aber wie? Mord? Zwar gäbe es keine Vermisste und daher weder eine Verfolgung noch eine Anklage, aber Mord? Hasste er sie denn schon? Nein, überhaupt nicht. Es war bloß ein
nahe liegender Gedanke. Außerdem: wäre er nach diesem Prinzip in seinem Leben vorgegangen, wie viele Morde hätte er schon hinter sich, hm?
Nein, ihm würde schon etwas Intelligenteres einfallen. Ihm fiel nichts ein.
Und dann erinnerte er sich an den Zimmermann. Er hatte ihn gerufen, damit er eine Stufe der Holztreppe auswechselte, sie tranken einen Schnaps und beim Abschied lud ihn der Zimmermann zu einer
Besichtigung seiner Werkstatt ein. Schon zwei Tage später besuchte er ihn. Das Wohnhaus stand auf einem Hang, dicht am Wald, der Zimmermann hatte es mit eigener Hand ganz aus Holz gebaut, die
Fenster waren wie glitzerndes Wasser, wenn man hindurch blickte. Nach Kaffee und Kuchen führte ihn der Zimmermann durch seine Werkstatt. Am Schluss zeigte er ihm seine jüngsten Werkstücke:
Küchenbrettchen Sie glänzten in einem matten Weiß mit einem Hauch Gold. Schon das war erstaunlich. Dann sollte er mit den Fingern darüber gehen. Er tat es und nach dem dritten Mal zog er
erschrocken die Hand zurück. Er hatte das Gefühl, einen Frauenrücken zu streicheln.
Um seine Erregung zu verbergen, betrachtete er einen Stapel Bretter, während der Zimmermann in seinen Bart lachte.
„Es liegt am Holz!“ sagte er. „In jedem Holz steckt ein Geheimnis. Man muss es nur freilegen...“
Wenn der Zimmermann so gut die Geheimnisse des Holzes kannte, dann war er auch der richtige Mann, um ihm in seiner Not zu helfen.
Er fand ihn bei einer Hobelarbeit in der Werkstatt. Erst unterhielten sie sich über das Wetter, dann zeigte ihm der Zimmermann sein jüngstes Stück, einen kleinen Tisch aus Kirschbaum, dessen
poliertes Holz so zart rot schimmerte, dass man glauben könnte, er erröte verschämt vor den Augen des Betrachters. Ein ausführlicher Unterricht des Zimmermanns über die Holzarten schloss sich an,
doch jetzt konnte er geschickt einhaken und auf sein Problem lenken, schließlich ging es auch da um Holz. Er sagte dem Zimmermann, er würde an einer Geschichte über eine Birke schreiben und
hierzu hätte er gern den Rat des Fachmannes.
Während er die Handlung erzählte, sah ihn der Zimmermann in die Augen und weil der bärtige Mann ihn kein einziges Mal unterbrach, fühlte er sich verstanden und schon halbwegs gerettet. „Ja“,
sagte er am Ende, „und jetzt will der Mann in meiner Geschichte sie weghaben.. Aber er weiß nicht, wie. Sie muss aus seinem Leben verschwinden, verstehst du, er kommt sonst nie mehr zu Ruhe. Und
das ist das Ende der Geschichte.“
„Ist denn Ruhe so was Schönes?“ fragte der Zimmermann.
„Ja, meine schon“, sagte der Mann, „ich meine natürlich den Mann in der Geschichte.“
Der Zimmermann dachte nach. „Wenn ich dich recht verstehe“, begann er dann langsam, „dann ist diese Frau ja ein Baum und ganz am Anfang hast du gesagt, sie will nicht, dass du den Kamin anmachst
und Birkenholz verbrennst. Ich denke..“
„Du willst doch nicht, dass ich sie ins Feuer werfe!“ rief der Mann erschrocken. Und korrigierte sich schon wieder: „Ich meine natürlich den Mann in der Geschichte...“
„Nein nein, du hast Recht, das sieht zu grausam aus...“ Der Zimmermann kniff ein Auge zu, das andere wurde dadurch besonders groß. „Aber warum sollst du nicht Birkenholz verheizen? Es ist gutes
Kaminholz. Tu das, das heißt, lass das den Mann tun, er soll damit ein Feuer im Kamin machen. Schließlich lebst du in der Hütte, das heißt der Mann, und es ist sein Zuhause und es ist seine Welt!
Aber du sollst auch wissen, dass du dann wieder alleine bist. Willst du das?“ Für einen Augenblick schwieg er, blickte zum Fenster und sagte dann. „Es kommt nämlich darauf an, was du mehr liebst.
Deine Freiheit oder das Leben..“
Über die letzten Worte lässt sich streiten, aber jetzt war jetzt nicht der Augenblick dazu. Außerdem hatte er sich ja schon längst für die Freiheit entschieden, damals im Herbst, als er alles
aufgab und in die Hütte zog. Die Freiheit, ja, die musste er haben, denn ohne Freiheit kann man nicht leben. Er jedenfalls nicht.
Auf der Rückfahrt fiel ihm ein, dass er noch viel rabiater sein könne. Ja, hier half nur starke Medizin! Er würde ein zum Trocknen gelagertes Birkenstammstück zersägen und daraus Brennholz
machen.
An der Hütte angekommen, lief er sofort zum Holzschuppen und wuchtete das Stammstück auf den Sägebock.
Als er die Säge gleichmäßig durch das Holz zieht, steht sie am Fenster und gestikuliert. Der Mund geht auf und zu, sie schnappt nach Luft, sie stößt mit der Stirn gegen das Glas. Aber er hört
nicht auf zu sägen. „Ja, ich bin grausam“, denkt er, „aber du auch! Du lässt mich nicht mehr los. Ich bin es, der hier kaputt geht!“
Und dann spaltete er mit der Axt die Stammteile und trug die Holzscheite in die Hütte. Sie kauerte im Schaukelstuhl. Die nackten Füße auf die Sitzkante gezogen, das Kinn auf den Knien, starrte
sie in den leeren Kamin. Sehr gut.
Er stapelte ein paar Holzscheite kunstvoll im Kamin zur Pyramide und zündete sie an.
Ein Ächzen, dann traf ihn Schläge, nicht unerwartet, damit hatte er gerechnet. Er stützte sich mit einer Hand auf den Kaminsims. Auf seinem Rücken hämmerten ihre Fäuste, während er, scheinbar
unbeeindruckt, den Schürhaken zwischen die Holzscheite stieß, um dem Feuer Luft zuzuführen.
Dann lief sie in ihr Zimmer.
So gut brannte das Feuer gar nicht. Das Birkenholz war nicht trocken. In den winselnden und zischenden Scheiten kochte der Saft. Dampf quoll aus den Enden, einen bitteren Geruch verströmend. Er
wünschte, er hätte trockenes Fichtenholz, das knallt und knattert und Funken spritzt. Ja, wenn alles in einem riesigen Feuerkrawall aufginge, das wäre gar nicht so schlecht.
Im Lehnstuhl beim Bücherregal sitzend, versuchte er etwas zu lesen. Herrgott, das war ja sein Kontoauszug. Ins Feuer damit! Was machte sie bloß im Schlafzimmer? Weinte sie? Er lauschte an der
Tür. Nichts zu hören. Die Klinke ließ sich bewegen, er öffnete die Tür einen Spalt.
Nein, sie lag im Bett, das Gesicht zur Wand gekehrt. Und schlief. Sie schlief!
Im Kamin war nur noch Glut, ein verkohltes Holzstück qualmte, er schob es in die Glut, auf einmal züngelten kleine blauen Flammen heraus, ein Augenblick der Magie, er versank darin. Dann wurden
die Flammen kleiner, zogen sich zurück, waren fort. Sie waren zurückgegangen, an ihren Ursprungsort. Wenn sie doch zurückginge, wo sie hergekommen ist. Aber sie schlief! Und noch immer in der
Asche herumstochernd, dachte er: Sie geht nicht. Sie schläft. Sie will also bleiben. Na gut.. So hatte er ihr wenigstens gezeigt, wer hier das Sagen hat. Ab morgen wird sie keinen schwachen Mann
mehr vorfinden, sondern einen, der tut, was er will. Ja, und er wusste auch schon, was. Er wird die Polizei zu rufen. Sie ist ihm zugelaufen. Eine Stumme... Eine Entlaufene. Wahrscheinlich aus
einer Klinik, bitte, er ist zwar kein Arzt, aber man sieht doch, sie ist nicht normal.
Und mit dem Gedanken, endlich den Ausweg gefunden, ging er in sein Zimmer. Und trat durch die andere Tür in den Wald.
Nein, es war zu früh zum Schlafen. Es war ja erst Abend. Er musste einen Spaziergang machen. am besten zum See. Auf halbem Weg hörte er Discomusik, Rufe und Gelächter, Halbwüchsige saßen an einem
Lagerfeuer und tranken aus Bierdosen.
Er folgte einem anderen Weg, er führte in einen ihm unbekannten Teil des Waldes. Nach einer Weile streifte etwas sein Gesicht. Seltsam. Die Bäume waren näher gerückt, es waren Birken. Die Zweige
bewegten sich erst sanft, fast streichelten sie ihn, dann schlugen sie zu wie kleine Peitschen und die längsten umschlangen ihn. Er riss sich los, wollte umkehren, sah aber hinter sich nur
undurchdringliches Dickicht. Als er weiterlaufen wollte, gab es auch dort keinen Weg mehr, nur Bäume, Büsche, Gestrüpp.
In einiger Entfernung stand schwarz gegen den Himmel eine mächtige Fichte. Ihre tief hängenden Zweige verhießen Schutz und Geborgenheit. Er kämpfte sich zu ihr hin, schlüpfte unter die
Nadelfittiche. Dort war es finster und er sah gar nichts mehr.
Er fühlte sich gerettet und weinte vor Glück, da begann der Waldboden zu zittern, wölbte sich und platzte, Erde flog in sein Gesicht, augenblicklich griffen Wurzeln nach ihm und packten ihn. Er
spürte, wie Triebe über sein Gesicht krochen und als er einen am Mund spürte, fasste er ihn mit den Lippen und begann an ihm zu saugen.
Vermisst wurde er erst nach sechs Wochen, als seine Tochter nach wiederholten Anrufen keine Antwort bekam. Die Suche, an der sich Polizei, Nachbarn und schließlich auch das Militär beteiligten,
brachte kein Ergebnis. Der Hinweis einer Frau, die ihn dreimal besucht hatte, sie hätte beim letzten Mal eine junge blonden Frau bei ihm gesehen, konnte nicht ernst genommen werden, denn ihre
Schilderung, dass die blonde Frau Vögel auf ihren ausgebreiteten Armen landen ließ, entsprang wohl ihrer Fantasie. Außerdem bestätigte der Nachbar weder ihre Aussage noch ihre Besuche bei dem
Mann.
Glaubwürdiger war der Bericht eines deutschen Zimmermannes, der den Mann kannte und dessen Verhalten als „befremdlich“ bezeichnet hatte. Im Protokoll ist zu lesen, dass der Mann von ihm wissen
wollte, wie er sich von einer Frau befreien könne, die er als Birke bezeichnete.
Das ließ nur einen Schluss zu: In geistiger Verwirrung muss der Mann seine Hütte verlassen haben und ist in einem der umliegenden Moore ums Leben gekommen.
Als auch nach drei Jahren die Leiche nicht zum Vorschein kam, wurde der Mann für tot erklärt. Die Tochter verkaufte die Hütte. Der neue Besitzer ließ die Birke fällen, weil sie genau im Blickfeld
zum See stand und von ihm als störend empfunden wurde.
Zwei Jahre später fanden Waldarbeiter die skelettierte Leiche, etwa 3 km von der Hütte entfernt, unter den bis zu den Boden hängenden Zweigen einer Fichte.