Wer hat geschossen?
Zugegeben, sein Leben war ein Desaster. Dafür besaß er etwas, was die meisten nicht hatten: Zeit. Und die nutzte er für Träumereien. Ja, man kann sogar sagen, er war ein Meister im Träumen. Auf
dem Sofa liegend, erinnerte er sich an etwas und schon lief der Film ab ganz nach seinem Wunsch.
Wieder einmal so auf dem Sofa liegend, dachte er an eine Szene aus seiner Kindheit. An einem Sommertag badete er nackt in einem Baggerloch. Da spürte er etwas auf seinen Schultern, und
tatsächlich, als er den Blick nach oben richtete, sah er ein Mädchen in einem blauen Badeanzug. Auf einem Vorsprung der Sandwand, von der Nachmittagssonne beschienen starrte sie auf ihn herab. Er
sah lange hoch, dann sprang er ins Wasser. Als er nach dem Tauchen wieder hoch kam, war sie verschwunden.
Sie müsste jetzt über 20 sein, dachte er, und vielleicht sollte er jetzt Kontakt mit ihr aufnehmen. Er schloss die Augen.
Und da steht sie auch schon, oben am Rand des Baggerlochs, in einem blauen Kleid, der Wind bewegt den Saum, er steigt zu ihr hinauf, sie reicht ihm lächelnd die Hand. Sie setzen sich. Von unten
aus dem Baggerloch kommt der Geruch feuchten Sandes.
Er beginnt ihren nackten Arm zu streicheln, und das erregt ihn. Als erfahrener Genießer hält er den Traum an. Er will ihn am Abend fortsetzen. Dann hat er den ganzen Tag etwas, um
sich darauf zu freuen.
Da hört er ganz nah eine Frauenstimme.
„Himmel noch mal, bleib sitzen!“
Langsam öffnet er die Augen. Er sitzt in einem Auto und auf dem Fahrersitz eine junge Frau mit kurz geschnittenem Haar.
„Na, endlich“, sagt sie. „Ich dachte schon, du hast dir das Genick gebrochen.“ Dann lacht sie. „Die Bullen haben uns gerammt und sausten in den Graben. Du bist beim Bremsen gegen die Scheibe
geflogen.“
Er sieht sie an. Es ist nicht die geträumte Frau. Und doch kommt sie ihm bekannt vor.
„Über 20.000 Euro haben wir! Nicht schlecht für den Anfang. Das hast du gut gemacht. Die in der Bank zitterten vor dir. Jetzt geht es los, unser neues Leben!“
Da erkennt er sie. Es ist Chris! Richtig, sie hatten davon gesprochen, oft sogar. Sie wollten gemeinsam ein neues Leben anfangen. Also haben sie es jetzt getan.
Er betrachtet seine Hände, ballt sie zur Faust, öffnet sie, ballt sie wieder, dann streckt er die Beine so heftig aus, dass die Stiefel gegen das Autoblech knallen.
„Mach die Karre nicht kaputt“, sagt sie.
Sie halten vor einem ländlichen Hotel. Mit einer Sektflasche gehen sie aufs Zimmer. Als Chris die Flasche entkorkt und die Kleider von sich wirft, weiß er schon, was kommt. Typisch Chris. Immer
hungrig nach Sex.
Sie schläft, er nicht. Wieder hatte sie danach ein Zigarillo geraucht, das hasst er. Er mag den Geruch nicht. Er denkt nach. Dieser Banküberfall soll erst der Anfang sein? Nein, denkt er, nicht
Bonnie und Clyde. Er will ein Leben unter Palmen an einem sonnigen Strand. Kalifornien vielleicht.
Leise zieht er sich an und verlässt das Zimmer. Im Flur ist es dunkel. Plötzlich stößt er mit dem Knie gegen etwas Hartes, das Licht geht an und er hört einen Schrei. Und dann sieht er sie:
Eine junge Frau im Bett. Sie will nach der Pistole in der Schublade greifen. Er schlägt die Hand zurück.
„Bitte“, flüstert sie und zieht die Bettdecke bis an die Augen.
Er sieht sich um. Ein Sessel und ein Sofa mit ockerfarbenem Bezug. Die Zimmerdecke ist sehr hoch und hat ein Stuckornament an den Rändern und in der Mitte eine Rosette mit der Deckenlampe.
Berliner Altbau, denkt er. Merkwürdig. Ist das hier nicht ein Hotel?
Er setzt sich in den Sessel.
Ihr geht die Luft aus, sie schiebt den Kopf über die Bettdecke. Sie sieht, wie still er sitzt und wird mutiger.
„Nein, Sie gibt es wirklich. Ich dachte, ich träume. Sie sehen bloß aus wie meine Romanfigur. Ich bin Schriftstellerin, wissen Sie.“ Und als er immer noch nicht reagiert, fragt sie: „Was wollen
Sie von mir? Geld?“
„Davon hab ich mehr als genug“, sagt er. „Ich bin ein Bankräuber.“
„Echt?“ Sie gluckst ein Lachen. „Toller Zufall. Mein Held ist nämlich auch einer.“
Vor Eifer holt sie die Hände hervor. Die Bettdecke rutscht bis knapp über die Brüste. „Ich arbeite gerade am Schluss. Eine knifflige Sache. Es muss auch der Höhepunkt sein. Was halten Sie
von einer Schießerei?“
„Ein Klischee, aber sehr amerikanisch“, antwortet er und springt auf. „Nein, Ich muss hier raus!“
Sie lässt die Decke etwas tiefer gleiten. „Wenn Sie schon mal da sind...“
Er erstarrt.
„Hab ich was Falsches gesagt?“
Er reißt die Bettdecke weg. Unter ihrem Bauchnabel ist ein kleiner Leberfleck. Er stöhnt auf. „Du bist es! Schon wieder! Kannst du mich nicht in Ruhe lassen!“
Sie macht eine wegwerfende Handbewegung: „Dann geh doch!“
„Ja wie denn?“ Er greift sich an die Stirn. „Es ist ein Alptraum. Ich komm einfach nicht raus.“ Sein Blick fällt auf die offene Schublade Er nimmt die Pistole und drückt sie ihr in die Hand.
„Es geht nicht anders! Du musst mich erschießen.“
Sie lacht.
„Spinnst du?“
Er packt ihre Hand, richtet den Pistolenlauf auf seine Brust, und obwohl er im selben Augenblick ein Gefühl von Bedauern, ja, sogar Trauer empfindet, schreit er: „So schieß doch endlich!
Schie
Die Mordkommission fand den Toten um 7.20 vor seinem Computer sitzend, den Kopf auf der Brust. Die Kugel war in die linke Schläfe eingedrungen.
Die Leiche wurde abgeholt, der Kommissar und sein junger Assistent blieben zurück.
„Ein Schriftsteller, denke ich“, sagte der Assistent und schob die mit Manuskripten vollgestopfte Schublade zu. „Und nicht sehr erfolgreich. Alles unveröffentlichtes Zeug. Übrigens, Chef, die
Frau, die den Toten entdeckte, ist jetzt da.“
„Gleich.“ Der Kommissar zeigte auf den Computer. „Da blinkt‘s. Der Computer ist noch an.“
Er drückte die Entertaste. Ein Text wurde sichtbar, seine letzte Zeile lautete: So schieß doch endlich! Schi
Der Kommissar setzte sich, scrollte den Text bis zur Überschrift „Der Träumer“ und begann zu lesen. Als er fertig war, drehte er sich um und betrachtete die zierliche junge Frau auf
dem Sofa. Sie rauchte ein Zigarillo. Dann sagte er: „Sie haben den Toten gefunden?“
Sie nickte.
„Sie heißen?“
„Christa Holzmann.“
Der Kommissar rieb sich mit dem Handrücken die rechte Augenbraue.
„Was wollten Sie so früh bei ihm?“
„Mit ihm frühstücken. Ich wohne gegenüber. Wir frühstücken oft zusammen.“
Dann sagte er: „Nannte er Sie Chris?“
Sie nickte wieder. Er drehte sich zum Computer, druckte den Text aus und reichte ihr die Blätter.
„Lesen Sie!“
Sie las. Nach einer Weile legte sie das Zigarillo in den Aschenbecher.
„Er wurde erschossen, als er gerade schrieb“, sagte der Kommissar.
„Ja, sieht so aus.“ Sie gab ihm die Blätter zurück, nahm das Zigarillo vom Aschenbecher, machte einen Zug, blies den Rauch aus und sagte: „Zwei-, dreimal verlangte er es.. im Suff. Ich dachte,
das ist ein Witz. Ich hab gelacht.“ Sie wurde heftig. „Was wollen Sie! Da steht es doch! Er hat’s selbst getan!"
„Das kann nicht sein“, sagte der Assistent. „Wir haben keine Waffe gefunden.“
„Wo waren Sie heute Nacht?“ fragte der Kommissar.
„Im Bett natürlich.“
„Wer kann das bezeugen?“
„Mein Mann, aber er schläft schlecht und dann geht er in den Hof, da ist eine Bank, da sitzt er dann.“
„Wo ist er jetzt?“
„Keine Ahnung. Er ist der Hausmeister. Hier ist immer was zu tun.“
Sie fanden ihn im Heizungskeller. Er hatte sich mit derselben Waffe erschossen, mit der er den Schriftsteller getötet hatte.