Aus dem Buch
Arno Reinfrank
DEUTSCHE HOCHZEIT
Illustration zur 1. Walze von Uwe Witt
1.WALZE Die Möglichkeit
Gern würde ich ein Liebeslied
in schönen Reimen bringen,
so rührend sanft und zuckersüß,
Herr Dieskau könnt es singen.
Ein ganz neutrales Hochzeitslied
von einer deutschen Trauung,
das noch den Enkeln nützlich wär
aIs Lesebuch-Erbauung.
Ein Hochzeitslied in glattem Takt,
ausnehmend hübsch geraten.
Als Brautpaar stünden vorm Altar
die beiden deutschen Staaten.
Herr West in einem schwarzen Frack
(die Sitte bleibt erhalten)
und Fräulein Ost im weißen Kleid
mit rotplissierten Falten.
Damit nicht auffällt, wie die Braut
an Umfang schon recht rund ist,
zieh einen Priester man hinzu,
der blind, doch sonst gesund ist.
Dies herzensfrohe Zermoniell
würde mein Lied erfassen,
doch die verdammte Wirklichkeit
hat mich im Stich gelassen.
Wenn ich ein Vöglein werden könnt,
ob Star, Fink oder Meise,
ich schlüge an das bessre Lied
in meisterlicher Weise.
Ich sänge ohne Staatsraison
als heiterer Schlawiner,
dem Himmel nah im Maiengrün -
vielleicht säng ich noch grüner.
Ich sänge auch nicht als Solist;
es sängen in den Zweigen
die Spatzen der Kollegenschar,
die eingeschüchtert schweigen.
In manchen Lektoraten gar
erlernten die Kapaune
das Krähen neu und gluckten nicht
in Konformisten-Laune.
Doch ungefiedert wie ich bin
(auch leg ich selten Eier),
bin ich kein Vogel, sondern dreh
die Leierkasten-Leier.
Die Orgel jault, die Walze quietscht,
der Holzwurm hat Bedenken,
ob sie nicht auseinanderbricht
bei meinem Reim-Verrenken.
Die Walze quietscht, die Orgel jault
in einer unbequemen
Komposition aus Heinelei
und Luftalarm-Sirenen.
2.WALZE, Der Einflug
Im Flugzeug sitz ich angeschnallt
und rechne reisefiebrig,
was nach dem jüngsten Wechselkurs
von meinem Geld noch übrig.
Ich reise durch das Himmelsblau,
wo klare Winde stürmen.
Wie mag es wohl tief unten sein
zwischen den deutschen Türmen?
Wie mag es wohl tief unten stehn
zwischen den neuen Bauten?
Ob sich ein Sturm zusammenbraut
aus all den Wirtschaftsflauten?
Es scheint mir nur ein Allzweck-Sturm
von Wirtschafts-Wettermachern -
die pusten doch so gerne was
sozialen Widersachern.
Bei uns hier oben jedenfalls
herrscht göttlich schönes Wetter.
Ein Jammer, dss die Wissenschaft
vertrieb die alten Götter.
Seit Affe und Neandertal
warn sie uns treu Begleiter
und dienten metaphysisch brav
der Welt als Blitzableiter.
Sie gingen allesamt konkurs.
Für diesen ganzen frommen
gigantischen Bankrott muss heut
die Menschheit selbst aufkommen.
Der Gott der Götter ließ sich früh
und lautlos pensionieren
und übertrug auf uns die Pflicht,
den Laden selbst zu führen.
Die deutsche Gram- und Kram-Nation,
bedrohlich voller Ecken,
in deren Spinnenfinsternis
die bösen Märchen stecken.
Wer sich da an die Arbeit setzt,
um Inventur zu machen,
dem kommt es vor, als wühle er
in lauter Unratsachen.
Der stößt auf Reste aller Art
und Haar und Aschehaufen.
Pervers fühlt er die Gänsehaut
über den Rücken laufen.
Zu lange führte Buchhaltung
der Tod im Eichmannkleide.
Die Passiva steht ungleich noch
der Aktiva zur Seite.
Und dennoch: ohne Inventur
kann man nicht bilanzieren
und ohne redliche Bilanz
kann kein Geschäft man führen.
Da nützt kein Drücken, nützt kein Drehn
kein rücksichtsvolles Schummeln.
Es nützt nichts, kybernetisch mit
Computern rumzufummeln.
Da helfen die Computer nicht,
die sind ohne Programme
so hilflos wie ein Säuglingskind
ohne die Brust der Amme.
Da müssen Programmierer her,
ein Stoßtrupp Demokraten,
die jung und mit Begeisterung
beleben diesen Laden.
Die mit der Wissenschaft umgehn
handfest und idealistisch,
als wär sie eine Frau im Bett -
ganz glühend humanistisch.
Wie komm ich bloß auf den Vergleich?
Es sind die Stewardessen,
die lassen einen Fluggast leicht
die Gegenwart vergessen.
3. WALZE Wieder daheim
In Frankfurt setze ich den Fuß
erstmals auf deutschen Boden.
Mein Blick entdeckt in großer Schrift
ein Schild: „Zutritt verboten“
„Verboten“ ach, du liebes Wort,
du warst völlig entschwunden
aus meinem Wortschatz; jetzt bist du
gleich wieder aufgefunden.
Begleitest mich auf meinem Weg,
du ordentliches Wörtchen.
„Missbrauch verboten“ steht sogar
vor dem Bedürfnis-Örtchen.
Bist um mich wie ein treuer Hund,
wohin den Schritt ich lenke
und raunst mir unaufdringlich zu:
„lch bin die Macht, bedenke!
Ich bin die Macht und Herrlichkeit,
ich sitze dir im Nacken
und wenn du anders willst als ich,
wird mein Gesetz dich packen!
Ich weiß, ich bin dir arg verhasst,
sonst würdest du nicht kichern.
Mein Staatsanwalt, der treibt dir's aus,
das kann ich dir versichern.
Mein Staatsanwalt, der bringt dir bei,
dass, wenn du erst verklagt bist,
vorm Richter du nicht lächeln darfst,
weil Lächeln untersagt ist!“
Da wusste ich: Ich war daheim
im Lande ohne Lächeln,
wo die Verbote allerorts
wie scharfe Hunde hecheln.
4. W ALZE Der Wohlstand
Ich sehe mich in Frankfurt um:
beachtliche Paläste
aus Stahlbeton und Glas stehn da,
des Wohlstands Wall und Feste.
Denn hier floriert die Marktwirtschaft,
befreit und siegestrunken.
Die Zukunft ist ihr piep egal,
solang die Banken prunken.
Die deutsche Bank, die Handelsbank
und obgleich weit im Westen
an Rhein und Main auch jene, die
sich toll nennt „Bank von Dresden“.
Die tut, als läge Dresden noch
für sie bequem erreichlich.
Die Logik des Gebietsanspruchs
ist wirklich unausweichlich.
Sie hat den Namen als Programm
in Leuchtschrift angeschlagen.
Wer Deutschlands Zukunft wissen will,
der soll die Banken fragen.
Soll blättern durch das goldne Buch
der Hochfinanz und Börsen.
Da tauchen Namen auf, die liest
man nirgendwo in Versen.
Gerüttelt dick die Finanziers
der Dritten-Reichsprojekte -
es gibt nicht einen trüben Teig,
drin nicht ihr Finger steckte.
Halb anonym wie ein Phantom
und voll des Größenwahnes
bedienen sie den Blasebalg
der Esse des Vulkanes.
Europa als Pompeji – jawohl!
Sie schüren hoch die Asche.
Vernunft sitzt nicht in ihrem Kopf,
sie sitzt in ihrer Tasche.
Und da der letzten Kriegslava
sie heiler Haut entkrochen,
versichern sie: auf dem Vulkan
lässt sich's gut Würstchen kochen!
Die Würstchen Frankfurts, die sind mir
zu heiß für meine Lippe,
auch wenn ich sie zur Kühlung in
Marcuses Senfpott stippe.
Auch wenn sie noch so hübsch garniert
mit Mark- und Dollar-Noten.
Es wünscht euch guten Appetit
der Chor der Auschwitz-Toten.
5. WALZE Die Dichter
Voll Ehrfurcht bin ich durch die Tür
der Paulskirche getreten.
Was hörten diese Wände nicht
schon deutsche Dichter reden.
Von Uhland bis zum Friedenspreis
des Buchhändler-Vereines
war sie ein Dichter-Tribunal,
ein räumlich ziemlich kleines.
Die Wichtigkeit der Reden will
ich keineswegs bestreiten,
zumal das deutsche Rednerrecht
prekär zu allen Zeiten.
Trotzdem ist diese Gattung mir
tief innerlich zuwider.
Auch böse Menschen reden laut,
doch sind sie ohne Lieder.
Bert Brecht (er zog die Feder vor
den rednerischen Waffen)
wünschte dem Rindvieh Redemut
zum Schlächterei-Abschaffen.
Sein edler Wunsch blieb halberfüllt:
Manch Ochse hat gesprochen,
die Metzger haben weiterhin
die Kälber abgestochen.
Die praxisfremde Rederei
wird auf der Welt nichts wandeln.
Man wünschte, dass der Wortschwall sich
mal niederschlägt in Handeln.
Dass uns mit Taten überrascht
Freund Günter Grass, der Große,
nicht nur der Redner-Überzwerg
in kurzer Danzig-Hose.
Und dass mein Landsmann Bloch aufhört,
mit Schwung uns weiszumachen,
die Bibel wär von Marx verfasst -
der schrieb ganz andre Sachen.
Arno Reinfrank (1934-2001), geboren in Mannheim und in Ludwigshafen aufgewachsen, ging nach diversen Studienaufenthalten in Paris und Berlin 1955 aus Protest gegen die restaurative Politik der Bundesrepublik nach England und lebte bis zu seinem Tode am 28. Juni 2001 in London. Reinfrank war Generalsekretär des P.E.N.-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland und ist Träger zahlreicher Ehrungen und Literaturpreise.
Sein vielgestaltiges und umfangreiches Werk umfasst publizistische Arbeiten, Prosa, Theaterstücke, Mundartgeschichten und Lyrik. Im Zentrum seines lyrischen Schaffens steht sein dichterisches Hauptprogramm, die zehnbändige Poesie der Fakten, in der er sich zu den Fragen einer industrialisierten Welt äußert und auf symbolische Weise wissenschaftliche Fakten der modernen Welt auf den schriftstellerisch-ästhetischen Bereich überträgt. In den letzten Jahren seiner unermüdlichen schriftstellerischen Tätigkeit widmete er sich vor allem dem 1000-seitigen Millenniumsprojekt Fin de Siècle - Die letzten tausend Tage, einem Tagebuchprojekt, in dem er zusammen mit dem Künstler Klaus Fresenius den Ausgang des vergangenen Jahrtausends reflektierte.