Vor vielen Jahren in Düsseldorf stand ein junger Mann, dem Aussehen nach Südländer, mitten auf dem Bürgersteig im Fußgängerstrom. Im Rücken elegante Schaufenster, vor ihm der tobende
Straßenverkehr und um ihn Menschen, die an ihm vorbei eilen. Er hält sein Gesicht zum Himmel, die Augen sind geschlossen. Unter den Lidern rinnt es glänzend über die Wangen zum Hals. Sein Körper,
erstaunlich korrekt gekleidet in Maßanzug und Schlips, zittert leicht. Man hört nichts. Ich meine, man hört nichts vom Weinen, obwohl man ungewollt und heimlich so lauscht, dass es plötzlich ganz
still um den jungen Mann ist. In Wirklichkeit hupen, bremsen, schnauben die Autos, klappern Schritte, füllt Stimmengewirr die Häuserschlucht. Aber man hört nichts.
Das alles sah ich, als ich noch weit von ihm entfernt war und ich dachte, er spielt Theater, er will auffallen und die Menschen ignorieren ihn, aber je näher ich ihm kam, umso grauenvoller wurde
mir klar: er weint wirklich.. Und ich dachte, ich wäre der einzige, der dies sieht, und wenn es die anderen nicht sehen, dann muss ich träumen. Ich ging vorüber, und ich spürte das nasse Gesicht
des jungen Mannes auf meinem Rücken. Ich brauchte mich nicht mehr umzudrehen, ich trug es auf meiner Haut.
Später in Berlin eine junge Frau nicht älter als 20, auf dem Kudamm, Obwohl es erst April war, trug sie keinen Mantel, nur ein kurzes Sommerkleid. Aus ihren geschlossenen Augen liefen
Tränen und sie lächelte.
Und alles drum herum war wie in Düsseldorf: die Leute gingen vorbei, und mir schien – und das war wohl ein Zeichen meines älter gewordenen Blickes – als wäre die junge Frau Wirklichkeit und die
Menschen mit ihren ausdruckslosen Gesichtern waren Spuk. Und wie damals ging auch ich vorbei. Alles gut, dachte ich, sie lächelt ja. Und trotzdem spürte ich ihr nasses Gesicht heiß auf meinem
Rücken.
Seitdem weiß ich: mir wird das weinende Gesicht ein drittes Mal begegnen, und es wird ein alter Mensch sein, eine alte Frau oder ein alter Mann, und dann, ich gelobe es, werde ich endlich
hingehen, als einziger, ich werde sagen.. Nein, bei solchen Tränen – und seien sie meinetwegen von Marihuana oder LSD verursacht – bei solchen Tränen gibt es nichts zu sagen. Ich werde mein
Taschentuch ziehen, die Tränen trocknen und das Gesicht in meine Arme nehmen.
Der Gedanke, mir könnte wieder ein Fehler, ein Versagen unterlaufen, macht mich heiß vor Aufregung. Schon allein die Vorstellung, dass ich kein Taschentuch bei mir haben könnte. An einem
Taschentuch könnte ich endgültig scheitern. Ich werde dafür sorgen, dass ich immer ein Päckchen Tempotaschentücher bei mir habe.