Dann kamen sie. Die Polizisten, stumm, mit weißen Gesichtern auf die Demonstranten starrend. Dahinter der Wasserwerfer. Für Sekunden Stille. Dann rannte eine SDS-Gruppe mit weißen Bauhelmen
und einer roten Fahne brüllend auf die Polizeikette zu. Die Polizisten rissen die Knüppel hoch, ein wuchtiger Wasserstrahl traf die Heranstürmenden. Einem gelang es, auf den Wasserwerfer zu
klettern und die Kanone auf die Polizisten zu richten. Ein begeisterter Aufschrei der Demonstranten brauste über den Ku-Damm.
Wenn er marschierte und die Schenkel gegen den Mantelsaum schlugen, schien ihm die Demonstration ein erotischer Kult, eine Beschwörung der Lebenslust. Tatsächlich konnte man es so betrachten.
Doch wenn das so war, so war es keine Revolution mehr. Jedenfalls nicht im alten Sinne.
Aber das war auch völlig unwichtig. Ein Einschnitt geschah, ein nie mehr zu reparierender Bruch ähnlich dem Durchreißen der Nabelschnur. Wussten das die Mitmarschiere? Ihre Parolen forderten
Mitbestimmung in den Betrieben und den Sturz der von alten Nazis beherrschten Justiz, sie protestierten gegen die Verlogenheit der Regierung und die Autoritäten in den Ämtern und Universitäten.
Nicht die Forderung nach einem Rätesystem wird ihrem Marsch den Namen geben, sondern der Aufstand gegen eine gestrige Welt.
Darum war sein Platz unter den Demonstranten. Und wenn sie im Rhythmus der Schritte riefen: „Brecht dem Schütz die Gräten, alle Macht den Räten! ", so wusste er, dass sie viel revolutionärer
waren, als sie es jetzt zeigten.
Viele erlebten eine zweite Geburt. Über Nacht brachen sie aus der Verpuppung ihrer Erziehung und Gewohnheiten, vergaßen die tausend Gesten, die man aus unerfindlichen Gründen benötigte, um seine
Atemzüge zu machen. Sie vergaßen das Abendland. Sie verzichteten darauf.
Wer die Zukunft in der Hand spürte wie den Einsteigegriff eines Busses, der sprang auf. Ohne Rücksicht auf das zurückbleibende Gepäck, den Ausweispapieren, den nachschreienden Angehörigen. Kein
Zeichen der Überraschung wenn sie entdeckten: sie waren nicht in einen Bus, sondern auf eine Straßenwalze geraten, und diese Walze schob die Kraft furchtloser Träume vorwärts, fantastischer
Pläne, von den Walzenfahrern leichthin produziert, als reisten Biedermeier in einer Postkutsche und unterhielten sich auf angenehme Weise.
Nur dass hier nicht die Zeit totgeschlagen wurde, hier kitzelten Reisende die Zukunft aus ihren Hirnen.
Trotzdem brach die verkalkte Welt. Und in der Luft war der Lärm der Jugend, Witz und Kraft der Sprechchöre, leidenschaftliches Gerede und das Klatschen der Schenkel.
Dann war er in den Kosmos geraten. Seine Klamotten schlotterten im Trott seiner leuchtenden Stiefel. Die Masse der Kometen folgte ihm. Ho-Ho-Ho-Tschi-Minh dröhnte es, und die Erde, die
Schweinsblase, wurde von rhythmischen Blähungen heimgesucht. Die Polizisten waren machtlos, lehnten an den Laternen und weinten.
Mensch, war das ein Traum! Gleich darauf sagte er laut in den Spiegel: Keiner wäscht Schweiner. Behaglich grunzte er. Ein neues Wort war vorbeigeflogen und er hatte zugeschnappt. Der Tag würde
seinen Sprechchorschatz wachsen lassen. Der Duden den Juden. Scheiße. Er spuckte das Wasser ins Becken. Auch ich? Auch ich. Die Vergangenheit klebte noch an seiner Zunge. Mach was dagegen, trink
Coca-Co1a. Als er sich überlegte, dass er - wenn er‘s grob überschlug - auf hundert linke Reime höchstens einen für Nazis und Reaktionäre geprägt hatte, den dazu noch aus Versehen, gähnte er,
reckte sich und begann den Tag.