In letzter Zeit befiel Jürgen Gruner, Dramaturg an einem Berliner Theater, ein sonderbares Gefühl. Standen die Schauspieler nach einer Bühnenprobe plaudernd zusammen, war ihm, als ginge das Stück
weiter.
Nachdem er eines Tages beim Betreten des Theaters einen Panikattackel bekommen hatte, suchte er seinen Arzt auf, und dieser riet ihm, eine Auszeit zu nehmen.
„Entdecken Sie Ihre Hände! Weg von der geistigen Arbeit, arbeiten Sie körperlich.“
Die Zeit war günstig. Gerade begannen die Theaterferien. Gruner fuhr nach Schweden in seine Ferienhütte.
Schon am ersten Tag griff er nach der Axt. Um die Sicht zum See zu verbessern, räumte er alles Buschwerk weg bis auf eine junge Birke.
Birken sind Verwandlungskünstler. Im Frühling sind sie mit ihrem durchsichtigen Kleid mädchenhaft kokett und auf eine unschuldige Art sexy. Im Sommer tragen sie ein zugeknöpftes dunkelgrünes
Kostüm, geben sich moralisch und matronenhaft, im Herbst sind sie in einem goldenen Prachtkleid stolze Diven. Doch dann reißt der Wind ihnen alles vom Leib und bald stehen sie nackt da. Im Ganzen
eine durchaus gelungene Aufführung und nicht ohne Tragik.
Nach getaner Arbeit setzte sich Gruner auf die Veranda. Es war Mittsommer. Wolkenloser Himmel, der See glänzte und der Wald sah aus wie eine Raupe, die zum See kriecht. Nicht ein Blatt an der
Birke bewegte sich.
Plötzlich wurde er aufmerksam. Etwas stimmte nicht. Er trat an das Geländer. Der Baum schien kleiner als sonst zu sein.
Bestimmt eine optische Täuschung, die Luft flimmerte vor Hitze.
Im Wald dagegen herrscht immer eine angenehme Temperatur, darum machte er einen Waldspaziergang. Nach einer halben Stunde hatte er sich erholt und kehrte um.
Er schlenderte auf die Hütte zu, stutzte. Die Birke war noch kleiner geworden. Gruner begann zu laufen..
Am Baum angekommen, legte er eine Hand an den Stamm, er war glatt und kühl wie immer. Er blickte ins Laubwerk und jetzt war kein Irrtum mehr möglich. Die Äste schrumpften.
Er lief in die Hütte, warf sich aufs Bett und schloss die Augen. Darauf wusch er sich die Augen mit kaltem Wasser. Er warf einen Blick durchs Fenster. Und stand still und glotzte.
Keine zwei Meter war die Birke groß. Und sie bewegte sich. Äste und Zweige klappten sich an den Stamm, verschmolzen mit ihm und langsam bekam er Rundungen. Aus dem weißen Stamm wurde ein
Frauenkörper. Ein nackter Frauenkörper.
Ein Auto fuhr über die Sandstraße Richtung See , eine Staubfahne hinter sich herziehend. Gruner riss die rote Wolldecke vom Sofa, lief hinaus und warf sie über die Statue. Das sah merkwürdig aus,
aber nicht so schockierend wie eine schneeweiße Venus.
Dann setzte er sich im Badezimmer auf den Schemel und starrte vor sich hin. Man hatte ihn gewarnt. Waldeinsamkeit kann die Sinne verwirren. Die Schweden haben dafür einen Namen: Lappenkrankheit.
Aber er ist doch erst ein paar Tage hier!
Die Verandatür schlug. Ein Besuch? Er spähte um die Küchenecke. Niemand da. Schon wieder eine Einbildung. Und als er zum Fenster sah, waren weder eine Figur noch eine rote Decke zu sehen. Hinter
ihm seufzte etwas.. Er drehte sich um. Auf dem Sofa, eingehüllt in die rote Wolldecke, saß eine junge Frau.
Er fragte, wer sie sei. Sie legte den Finger auf den Mund, dabei glitt die Decke herab.
Rasch holte er ein weißes Oberhemd und eine gelbe Jogginghose. Sie solle das anziehen, sagte er. Und während sie es tat, warf sie ihm be lustigte Blicke zu. Sie setzte sich und sah ihn
erwartungsvoll an. Er nahm ihr gegenüber im Schaukelstuhl Platz, begann zu wippen und musterte sie aus schmalen Augen.
War sie womöglich eine Schauspielerin? Spielte Birke und Verführerin? Aber was – und da glaubte er kurz, den Verstand zu verlieren - was, wenn die Birke schauspielert? Gott, ist das
hirnrissig.
Nein, dachte er, die Sache muss einen logischen Grund haben.
Von Berufs wegen las er viel. In letzter Zeit war er oft auf Geschehnisse gestoßen, die man früher als Wunder bezeichnet hätte. Zum Beispiel machten Wissenschaftler aus einer Stammzelle ein
komplettes Schaf. Na bitte. Warum nicht auch aus einem Baum einen Menschen? Und bei einer Birke logischerweise einen weiblichen. Gott sei Dank saß kein Ahorn auf dem Sofa. Gruner musste kurz
kichern.
Ob er sie mal anfasst? Eine tolle Figur hat sie ja. Und wie sie ihn anhimmelt mit ihren grünen Augen!
Er musste etwas tun und deckte den Tisch. Sie aß nichts. Statt den Tee zu trinken nahm sie den Flieder aus der Vase und trank das Wasser. Er gab ihr ein Glas Leitungswasser. Sie fauchte ein La
chen, umarmte ihn kurz – na bitte, eindeutig ein Frauenkörper – dann saßen sie sich wieder gegenüber und sahen sich schweigend an.
Was jetzt? Das Rot des Sonnenunterganges füllte das Hüttenzimmer. Richtig! Romantik. Ein Kaminfeuer muss her. Er griff nach einem Birkenholzscheit, da kam ein furchtbarer Laut aus ihrem Mund. Sie
stellte sich vor den Kamin.
„Schon gut“, sagte er, „kein Birkenholz. Könnte ja ein Mitglied der Familie sein.“ Und musste wieder kichern.
Dann richtete er ihr das Bett im Gästezimmer. Dabei beobachtete er sie aus den Augenwinkeln. Keine Reaktion. Sie verschwand in ihr Zimmer und er, dekoriert mit seinem weinroten Pyjama, lag im
Bett und blätterte in einer Theaterzeitschrift. Nichts rührte sich. Absolute Stille. Irgendwas stimmte nicht mit dem Ablauf. Dann schlief er ein.
Als er am Morgen erwachte, lag sie neben ihm.
Zum ersten Mal verfluchte er seine Vorliebe für breite Betten. Er konnte sich an nichts erinnern. Vorsichtig lüpfte er die Decke. Sie war nackt. Er auch. In diesem Moment schlug sie die Augen
auf, ein Katzenblick traf ihn, mit einem Sprung war sie aus dem Bett und lief in ihr Zimmer.
Während er frühstückte, hörte er von dort ein sonderbares Geräusch, war das ein Blätterrauschen? Mal lauter, mal leiser, und auf einmal Stille.
Gerade wollte er nachsehen, da kam sie heraus, mit strahlendem Gesicht, sie war barfuß, trug seine Jeans und seinen blauen Pullover. Und in den Armen ein Bündel Grünes. Sie lief nach draußen und
begann direkt vor dem Fenster, an dem er saß, mit den Händen Erde auszuheben und eine Pflanze nach der anderen hinein zu setzen. Wie zärtlich sie mit dem Grünzeug umging! Einmal sah
sie auf und lächelte ihn an. Verdrossen blickte er weg.
Sie kam herein und er ging nach draußen. Jetzt sah er, was es war: Birkenschösslinge. Und zweifellos ihre eigenen! Diese Frau hatte Birken zur Welt gebracht, nicht zu glauben.
Wenig später räumte sie den Küchentisch ab, fegte die Hütte, kochte eine Gemüsesuppe zum Mittag und alles, als hätte sie es schon immer getan. Und so ging es bis zum Abend. Sie verwöhnte ihn.
Dann wartete er wieder im Bett.
Als Gruner am Morgen aufwachte, stellte er fest, er lag allein und hatte eine Stunde länger als sonst. geschlafen. Auf einmal polterte es in der Abstellkammer. Er stieß die Tür auf: „Was suchst
du denn da?”
Sie zeigte ihm ihre neuen Schösslinge und machte eine bittende Geste. Er seufzte, holte aus dem Schuppen einen Spaten und grub die Löcher für die Pflanzen.
Am nächsten Tag kam sie wieder mit einem Arm voller Schösslinge aus ihrem Zimmer,. Er begann sich Sorgen um den Rasen zu machen. Aber das Schlimmste war, sie hatte nur noch ihre Kleinen im Kopf
und nicht mal einen Blick für ihn. Gekränkt und im Schaukelstuhl wippend, tat er so, als merkte er nicht, wie sie nach draußen ging. Diesmal wollte er ihr nicht helfen. Dann hörte er einen Laut,
wie wenn ein Spaten gegen Stein stößt. Jetzt macht sie auch das noch selber!
Als sie hereinkam, um sich die Hände zu waschen, ging er hinaus. Vor einem ihrer ersten Schösslinge hockte er sich hin. Die Blätter waren noch nicht ganz entfaltet. Vorsichtig bog er eines glatt,
und dann traf es ihn wie ein Schlag. In der Blattaderung zeigte sich ein Gesicht. Kein x-beliebiges, sondern sein Gesicht. Ein Blatt nach dem anderen entrollte er. Jedes Mal darauf sein Gesicht.
Mal lachend, mal ernst, mal schlafend, mal vergrämt. Einmal sah es geradezu dämlich aus. Das Blatt riss er ab.
Er stürmte in die Hütte.
„Wer gab dir das Recht, mein Gesicht zu veröffentlichen?”
Erstaunt sah sie ihn an.
„Ich”, donnerte er, „lehne die Vaterschaft ab. Sämtliche Blätter mit meinem Gesicht sind zu entfernen!“
Sie hämmerte auf ihn ein, er packte ihre Handgelenke. Als gebe sie auf, erschlaffte sie, er trug sie zum Schlafzimmer. Vor der Tür entschlüpfte sie ihm und sprang davon.
Er warf sich aufs Bett.
„Sie spielt mit mir, das Biest!“
Jetzt hatte er genug. Schluss mit dem Kinderkriegen. Überhaupt, Schluss mit allem.
Hau sie weg, dachte er, sie ist ja nur ein Baum. Moment mal, sie ist eine Frau. Das wäre Mord. Nein, dachte er grimmig, das hätte sie wohl gern, ich werde aus einem dummen Plot doch keine
Tragödie machen. Er würde sie einfach davon jagen. Zurück zu den Bäumen!
Und dann hatte er die Lösung.
Aus dem Schuppen holte er ein Birkenstammstück. Beim Klang der Axt kam sie ans Fenster und begann heftig zu gestikulieren, dabei stieß sie die Stirn gegen die Scheibe.
„Gleich gibt's Scherben, meine Kleine”, flüsterte er, „und wetten, die Farbe deine Blutes ist grün.“
Als er wieder aufblickte, war sie verschwunden.
Die Arme voller Holzscheite trat er in die Hütte. Sie kauerte im Schaukelstuhl und starrte in den Kamin. Umständlich baute er die Scheite zu einer Pyramide und riss ein Streichholz an. Ein
Ächzen, und auf seinen Rücken sausten ihre Fäuste nieder, er machte ungerührt weiter.
Dann hörte er nackte Füße davon tappen. Er setzte sich in den Lehnstuhl und las etwas. Herrgott, das ist ja eine uralte Zeitung. Er warf sie ins Feuer..
Was ist eigentlich mit ihr? Weint sie etwa? Er öffnete leise die Tür. Sie lag im Bett und schlief. Sie schlief!
Jedenfalls weiß sie jetzt Bescheid, dachte er. Und er beschloss, sofort seine alten Gewohnheiten aufzunehmen. Ein Spaziergang war fällig.
Der durch Laubbäume verschattete Waldweg war dunkel. Etwas streifte Gruners Gesicht. Ein Buschzweig, dachte er. Aber dann wieder und wieder und immer heftiger. Es waren die Bäume, sie griffen
nach ihm. Er wollte umkehren, sah aber hinter sich nur undurchdringliches Gebüsch. Als er weiterlaufen wollte, war der Weg durch eine Mauer aus Dickicht versperrt.
In der Nähe stand eine Fichte und schien ihm mit ihren ausgebreiteten Zweigen Schutz zu bieten. Er kämpfte sich durch und kroch unter ihre Fittiche. Aufatmend glaubte er sich in Sicherheit, da
platzte der Boden auf, Erdbrocken prallten auf sein Gesicht. Wurzeln schnellten hoch, umschlangen ihn. Triebe züngelten heraus und einer, mit einer Knospe an der Spitze, klopfte gegen seine
Lippen. Er öffnete den Mund und während er zu saugen begann, schlossen sich seine Augen unter dem sanften Druck von Blattlaub.
Drei Wochen lang suchte man ihn, dann hieß es, er sei in einem der Sümpfe umgekommen. Ein Jahr später fällte der neue Besitzer die Birke. Sie störte seine Sicht zum See.