1
Es war der erste warme Frühlingstag, wir hatten die Jacken abgelegt.
Wir, das waren Gunnar und die Pflegejungen seiner Familie, Kore und Sven-Gösta,und ich, der deutsche Praktikant, ein junger Spund.
Sven-Gösta war 13 Jahre alt, ein Kraftkerl und tapsig wie ein Bär. Er hasste Arbeit, bekam er eine zugeteilt, verfluchte er uns und die Welt und klagte dem Himmel, warum er in einer Hölle leben
müsse.
Gunnar fällte junge Fichten, richtige Weihnachtsbäume, mit seine gelben Bogensäge. Er kürzte sie auf 2 m Höhe und ich schlug die Zweige mit der Axt ab. Die Stangen stapelten Jungen stapelten
die an den Straßenrand. Tage später brachte sie ein Holztransporter nach Dänemark. Wo sie für den Bau von Gartenzäunen verkauft wurden
Plötzlich grölte Sven-Gösta: „O Herre Gud! Ein Troll!“
Kore, 12 Jahre alt, spindeldürr und lang wie eine Bohnenstange, stand daneben, machte heftige Verbeugungen und schlug mit den Armen, als hätte er Flügel. Entzückte kreischte er:: „Ein
Troll, jaha, ein Troll, ein Troll, ein Troll!“
Es war eine Stammwucherung an einer Kiefer. Gunnar schlenzte heran, sägte die Wucherung ab und drückte mir das Holzstück wortlos in die Hand. Es hatte tatsächlich die Figur eines dicken kleinen
Kerls, in hockender Haltung und mit einem Gesicht,, in dem zusammengekniffene Augen saßen..
,,Wie heißt der Troll, du Höllenteufel?“ fragte Sven-Gösta fast drohend
,,Troll heißt er“, kicherte Kore.
Am Nachmittag setzte ich die Figur neben meine Reiseschreibmaschine. Dort traf sie morgens traf sie die aufgehende Sonne und abends der Glanz vom See.
Eines Tages fiel mir etwas auf.. Sobald ich meine Tabakdose offen liegen ließ, schrumpfte der kostbare, teure Inhalt.
Ich schaute mir die Figur an. Sie stand ungerührt auf ihrem Platz. Aber sie hatte winzige funkelnde Augen und grinste.
Ich stopfte mir die Pfeife und brummte: „Na schön. Fühl dich wie zuhause! Aber das mit dem Tabak, das lässt du gefälligst!“
2
Lisa hatte gebacken. Ein Blech goldbrauner Haferflockenkekse knusprig und honigsüß. Am Nachmittag war das Blech leer, obwohl wir alle - wir versicherten es uns gegenseitig - doch nur die
Hälfte gegessen hatten.
Am Abend stellte ich den Troll zur Rede. Seine Stimme war wie knarrender Schnee.
,,Ich war es nicht, wenn du das meinst.“.
,,Denk nach.“
,,Dafür bin ich nicht geschaffen.“ Er machte ein verärgertes Gesicht.
Tags darauf fand ich ein paar Kekse in der Schreibtischschublade
,,Siehst du!“
Ich war verblüfft, ließ mich aber nicht zum Narren machen.
,,Das warst du“, schimpfte ich.
,,Für dich, nur für dich“, sagte der Troll, ,,bin ich zum Dieb geworden.“
Zufällig kam Gunnar an der Tür vorbei. Er trat ein, ergriff den Kuchen und stopfte ihn sich in den Mund.
,,Es gibt nichts Schöneres“, sagte er, ,,als zufällig gefundenen Kuchen.“
Und das sagten wir denn auch Lisa. Sie blickte uns prüfend an. Danach kaufte sie sich eine Tiefkühltruhe und seitdem fror sie die Hälfte des Kuchen sofort nach dem Backen ein.
,,Ich hasse den Winter“, knarrte der Troll und verzog sein Gesicht ,,Auch dann, wenn die Menschen ihn in einen Kasten sperren“
3
Einmal begleitete der Troll uns in den Wald. Er hatte sich auf Gunnars Schulter gesetzt.
,,Warum bist du so geknickt, Gunnar?“
,,Schau mal. Hier die Ameisenstraße... „, sagte Gunnar. „Sie läuft genau in der Fahrspur. Jedes Mal, wenn wir hier lang fahren, zerquetschen wir tausende Ameisen. Wie kann man das ändern? "
,,Ganz einfach. Bohr Löcher in die Reifen. Ja. Wo nichts ist, passiert nichts. Verstehst du? Die Ameisen werden von den Löchern der Reifen berührt. und weil ein Loch doch nichts ist, merken die
Ameisen nichts.“
Als Gunnar die Reifen des Fahrrads mit einem Schraubenzieher durchlöcherte, zischte die Luft heraus und das Rad hob sich in den Wind. Gunnar konnte sich noch schnell auf den Sattel schwingen und
so flog er am Nachmittag über dem Dorf. Natürlich landete er weich vor dem Strandheim. Denn die Luft, die verströmt, hört einmal auf zu strömen. Und dann muss jedes Flugzeug landen.
Der Troll hatte Gunnar wieder um eine Spur weiser gemacht. Obgleich er selbst nicht damit gerechnet hatte, dass das Fahrrad fliegen würde.
Das erzählte mir der Troll. Und jetzt verstand ich auch Gunnars wunderliches Verhalten beim Bau des Trockenklos bei der Hütte. Das Klohäuschen stand, die Sitzplatte hatte er gerade festgenagelt.
Da kam er zu mir, kratzte sich hinter dem Ohr, wo sich die Haare kringelten. Er schüttelte den Kopf: ,,Wie geht das an! Es fehlt noch das Loch im Sitz! Wie kann aber ein Loch fehlen, das doch
nichts ist? Erklär mir das...“
Ich konnte es ihm nicht erklären. Erst viel später stieß ich auf ähnliche Fragen in einem Buch über Buddhismus.
Gunnar wartete meine Antwort nicht ab. Er setzte sich auf die Platte, zog einen Strich um sein Gesäß und sägte die Scheibe heraus. Und tat erstaunt, wenn sich Frauen fürchteten, dort Platz zu
nehmen.
,,Ist doch bloß ein Loch, und ein Loch ist doch nichts, oder?"
4
Manchmal lief Birgit zum See hinunter. Sie hatte einen merkwürdigen Gang. Sie schaukelte in den Holzschuhen fast wie ein Seemann. Neben der Bootshütte setzte sie sich nieder und schaute auf den
See hinaus.
Einmal huschte auch der Troll hinunter zu ihr. Er kauerte sich ihr gegenüber, rümpfte seine Nase und meinte griesgrämig: ,,Hier unten ist ja alles nass.“
Birgit schwieg.
Troll: ,,Auf wen wartest du?“
Sie schwieg noch immer.
Troll: ,,Es ist die alte Geschichte. Man läuft von den Menschen weg, um sich Traum-
Menschen zu schaffen. Himmel, ich sehe einen Mann zwischen den Bäumen. Wie riesig
er ist.“
Da lachte sie.
Troll: ,,Du hast ihn etwas zu groß geträumt, fürchte ich.“
Sie warf die Haare von der linken auf die rechte Schulter. ,,Sei still.“
Troll: ,,Er macht sich lustig über dich? Ich weiß.“
Birgit: ,,Ich bin kein Kind mehr. Ich will eine kvinna sein. Eine Frau. Du verstehst.“
Troll: „Ja. Das heißt nein. Ich will immer nur ich sein. Aber meistens bin ich ein anderer. Hör zu: Ich werde ihn jetzt rufen.“
Ich hörte in meinem Zimmer ein fernes Raunen. Ich ging ihm nach und fand die beiden neben der Bootshütte. Kaum sah mich der Troll, kletterte er in einen Birkenbusch und pflückte geschäftig
Blätter. Er konnte in seinen kleinen Fingern nicht viel halten. Er brummte: „Jetzt muss ich hinauf und die Blätter auf den Tisch zum Trocknen legen. Daraus wird ein Tee. Danach könnt ihr gut
pinkeln." Und weg war er.
Birgit und ich saßen nebeneinander. Die Büsche und Bäume dufteten. Der See platschte, die beiden Boote zerrten dann und wann an ihren Ketten.
5
Der Troll hatte meine letzten Tagesbucheintragung gelesen. Vor Lachen kugelte er auf der Schreibtischplatte hin und her. Ich riss eine Schublade auf, er plumpste hinein. Ich stieß die Schublade
zu.
Nun muss ich sagen, er war schon seit einiger Zeit so närrisch. Lisa hatte im Webzimmer auf Tisch und Fensterbrettern Lindenblüten ausgebreitet.. Wir hatten sie von den Linden am ehemaligen
Pfarrhof gepflückt im Wettkampf mit Oskars Bienen. Oskar ist unser Nachbar, ein alter Bootsbauer, sein Häuschen steht etwa hundert Meter vom Strandheim auf einer kleinen Anhöhe unter hohen
Fichten. Fünf Bienenvölker hat er.
Wer jetzt Lisas Webzimmer betrat, kam betrunken wieder heraus. So berauschend dufteten die Blüten. Der Troll hatte es schnell gemerkt und holte sich täglich einen kleinen Rausch.
,,Ich bin nicht betrunken! Lass mich raus!" rief er aus der Schublade.
,,Ich lass mich nicht verhöhnen von einem total berauschten Troll."
,,Ich bin nüchtern. Und ich habe gelacht, weil du in deinem Text vom Norden sprichst. Wir leben doch im Süden! Småland ist Südschweden! Hör mal, lass mich raus, heut ist Flaggentag! Lass mich
raus. Ich bin ein Patriot!"
Sogar Gunnar, Lisa und die Jungen, dachte ich. Gunnar hauptsächlich, weil es bei der Feier kostenlos Kuchen und Kaffee gibt. Ich selbst wollte hierbleiben und das Haus mit dem Baby hüten.
Auch einen Troll soll man nicht von seiner patriotischen Pflicht abhalten. Ich ließ ihn heraus und schon war er durchs Fenster verschwunden.
Eine halbe Stunde später stehe ich am geöffneten Fenster, ich höre an und abschwellenden Gesang, der Wind trägt ihn her. Unter Eichen am See singen die Dörfler die Nationalhymne Schwedens, voll
Wehmut und sehnsüchtig zugleich.
„Ich will leben und sterben im Norden..“
Jaha, du!
6
,,Wo warst du“, fragte der Troll.
,,Wir haben das Netz an der Kuhinsel eingeholt, das wir gestern ausgelegt hatten.“
,,Und was gefangen?“
,,Ein Froschliebespärchen.“
(Nichts im Netz als Zweigstücke und ein kleiens Froschmännchen sitzen auf einem Froschweibchen. Gunnar löste es zärtlich aus den Maschen. Die Frösche sahen uns still mit ihren Knopfaugen an. Sie
fielen aus Gunnars Hand ins Wasser, so wie wir sie ans Licht geholt hatten: aneinandergeklebt.)
,,Was ist das, ein Liebespärchen?“ fragte der Troll weiter.
,,Zwei Frösche, die sich lieben.“
,,Und was ist ,lieben'? Schon gut, schon gut, ich sehe, du weißt es nicht. Aber ich weiß es. Wir Trolle wissen alles.“
,,Wenn du schon alles weißt, warum fragst du mich?“
,,Weil es merkwürdig mit den Menschen ist: So ist etwas und so spricht ein Mensch darüber. Das sind zwei verschiedene Sachen. Also, damit du es weißt: Liebe ist Fortpflanzung. Damit hab ich
glücklicherweise nichts zu tun. Ich bin aus Holz."
Sollte ich dem Troll jetzt erzählen, wie sich das Holz liebt? Wie zwischen Fichten
und Birken ungeheuerliche Leidenschaften stattfinden? Bin ich nicht gestern von einer
Fichte verprügelt worden, weil ich ein paar Blätter von einer Birke zupfte? Und als wir drei Fichten fällten, Gunnar und ich: wie viel Trauer hing in den Zweigen der überlebenden Bäume?
Was weiß schon ein Troll.
,,Oho“, sagte der Troll auf einmal. ,,Beispielsweise, wo du dich herumtreibst.. Man sieht dich ja schon gar nicht mehr in der Hütte.“
„Ich bin auf Blaubeersuche.“
„Und warum bringst du nie welche mit? Kein Wunder, es wären ja auch immer nur zwei.. Sehen die so aus?“
Er neigte den Kopf zur Seite und sah mich neckisch an.
„Lass das“, sagte ich, „du schielst. Außerdem stimmt die Farbe nicht. Deine Augen sind schwarz, rabenschwarz.“
„Soll ich sie blau machen? Liebst du mich dann?“ Er gickerte. „Ja, es ist Mittsommer. Dann ist alles möglich. Da wurde Odin Mensch und suchte sich eine Menschenfrau. Heute könnte man sagen, da
werden Männer Odin und ..“
Ich unterbrach ihn.
,,Du hast mal wieder in meinen Büchern gestöbert. Lass gefälligst deine Pfoten davon.“
Er lachte. Ein geringschätziges Lachen.
„Bücher! Wenn einer was wirklich weiß, dann lebt er es.“
7
Es war Zeit, den Koffer zu packen. Man muss ja auch mal Geld verdienen.
Troll: „Ich will mit!“
„Du wirst in Berlin nicht glücklich sein“, sagte ich. „Es ist eine verrückte Stadt..“
Troll: „Na großartig. Mal was Neues.“
„Sie ist gespalten, verstehst du. Mitten durch.. in Ost und West.“
Das hätte ich nicht sagen sollen. Er schlug Saltos auf meinem Schreibtisch und quietschte wie eine Gummiente.
Nein, dachte ich, jetzt erst recht nicht. Als Erstes würde er sofort mit den Grenzern ein Gespräch anfangen und sie womöglich in Bäume verwandeln. Andererseits, wo sollte ich ihn zurück lassen?
In einer Schublade? Lisa hatte beschlossen, die Zimmer im Strandhem an Sommergäste zu vermieten. Der Erste, der die Schublade aufzieht, würde einen Herzinfarkt bekommen ..
Und darum nahm ich ihn mit. Zuvor musste er mir hoch und heilig versprechen, in Berlin keinen Unsinn zu machen, es gäbe dort schon zu viel davon. Mit einem Seufzer versprach er es. Besser hätte
auch Gunnar nicht seufzen können. Dann sprang er in meinen Koffer.
Das Auto wartete. Es sollte mich zum Schienenbus bringen. Ein letzter Blick in Augen, die mir lieb geworden waren. Dann die drei Birken vorm Haus, der See, der Waldhorizont, das Haus. Und
los.
Als ich in Westberlin den Koffer öffnete, dachte ich, jetzt passiert es. Aber nichts geschah. Kein Troll sprang mir entgegen. Im Koffer lag noch immer der kleine Holz-Buddha, mit feistem Bauch
und grienendem Gesicht.
Na schön, dachte ich, mach dich nur lustig über mich! Ich steckte ihn in die oberste Schublade der Kommode neben meinem Bett. Merkwürdig, kein Gerumpel. Die ganze Nacht nicht, auch nicht am
nächsten Tag. Ein Zeichen, dass er ein Buddha bleiben wollte?
Ich holte ihn aus der Schublade und stellte ihn auf den Schreibtisch.
8.
Das Feuer der Studentenrevolte, an dem auch ich mich wärmte, erlosch schneller als gedacht. Alle möglichen Bücher über den Buddhismus waren gelesen und meine Frauenbeziehungen waren von kurzer
Dauer. Ich führte eine kleine Buchhandlung mit Untergrund-Literatur, bevor sie pleite ging, wurde ich Angestellter in einem Fachverlag und da blieb ich hängen.
Da erreichte mich Gunnars Brief. Das war Anfang Mai 1989. In seiner krakeligen Handschaft schrieb er, die letzte Hütte sei fast fertig, ob ich nicht kommen wolle, um ihm bei den restlichen
Kleinigkeiten zu helfen. Ich könne kostenlos darin wohnen, so lang ich wolle. Ich sagte sofort zu.
Während ich die notwendigen Sachen in meinen alten Segeltuchkoffer verstaute, ging mir das Resümee meines bisherigen Lebens durch den Kopf. Bei den Linken war ich nie richtig angekommen (ich
hatte wohl zu viel von Bäumen gesprochen) und ebenso wenig hatte ich zum Buddhismus gefunden. Ja, dazu hatte mich diese kleine Figur verleitet, nachdem ich zu ahnen begonnen hatte, dass im Leben
mehr geschehen müsse als demonstrieren und politische Streitgespräche führen. Die gesellschaftlichen Probleme waren verblasst, jetzt ging es um mich und meine Zukunft.
„Satori“ heißt im Buddhismus das Erkennen der Wahrheit, erst danach lebt man richtig. Manchmal stellte ich mir Satori wie einen Blitz vor, der mir eine Ladung Licht verpasst und danach würde ich
ein anderer Mensch sein.
Aber, offen gesagt, in all den Jahren gab es nicht das geringste Anzeichen davon. Weder bei einer APO-Demonstration noch nach einem LSD-Trip.
Ein sonderbares Erlebnis aus meiner Schwedenzeit begann mich zu beschäftigen. Damals maß ich ihm keine Bedeutung bei, aber jetzt, nach der Lektüre buddhistischer Bücher, kam es mir immer wieder
in den Sinn.
Im Strandhem gab es ein WC, trotzdem ich benutzte gern das alte Plumpsklo auf der Rückseite des Hühnerstalls. Einmal hatte ich die Holztür weit aufgeschlagen, ich saß mit herunter gelassenen
Jeans, starrte auf den Wiesenhang vor mir, den etwas erhöhten Fliederbusch, den wolkenloser Himmel und da erfasste mich eine Schwerelosigkeit und mir war, als schwebte ich hinaus und dränge ein
in das, was ich sah, ohne dass ich es dabei aus den Augen verlor..
Und dann gackerten hinter mir die Hühner.
Was immer es war, ich dachte, das kann ich wieder erleben.
Die Buddhafigur hatte sich als völlig nutzlos erwiesen. Sie blieb stumm, rührte sich nicht, war einfach ein Stück Holz und diente als Briefbeschwerer. Ich nahm sie in die Hand und sagte:
„Schluss! Finito! Ich setz dich im Wald aus, da gehörst du nämlich hin.“
Ich rollte die Figur in ein Handtuch und dann: Koffer zu!
Zwei Tage später war ich in O. in Småland/Schweden, wo vor zwei Jahrzehnten alles begonnen hatte.
9
Nachts fuhr ich hoch und tastete nach der Taschenlampe. Das Gekreisch war direkt vor mir. Nicht zu glauben. Auf meinem Schlafsack hockte der Troll! Sein Fell sträubte sich, seine Augen waren weiß
vom Lampenstrahl.
„Wach auf verdammter Penner! Wir ersaufen!“ zeterte er. „Tu was!“
Und da hörte ich es. Prasseln von schweren Regentropfen aufs Dach. Ich schwenkte den Lichtstrahl zur Decke. Von den Brettern tropfte es. Zum Teufel auch... Die Hütte war eine
Tropfsteinhöhle
Nur „Kleinigkeiten“ wären noch zu machen, hatte Gunnar geschrieben. Eine Kleinigkeit war offenbar das Dach. Es bestand aus Brettern und einer dünnen Plastikplane darüber. Es fehlten
die Lattung und die Ziegel. Und jetzt regnete es durch.
In der nächsten Stunde verteilte ich allerlei Auffanggefäße auf dem Boden. Einmal rutschte ich aus und schlug lang hin, was der Troll mit einem Geheul quittierte.
Dann hüpfte er zwischen den Pfützen herum, kippte eine entzündete Kerze um und schimpfte auf Gunnar.
„Der ein Zimmermann? Ein fauler Sack ist das! Was hat der die ganze Zeit getan? Eine Niete ist das, eine Arschgeige! Ein versoffener Wasserfallbauer! Echt! Ich mach ihn fertig!“
Es waren schlimme Berliner Schimpfworte. Andererseits... Wie hatte ich sein Geschimpfe vermisst!
„He du! Wo warst du die ganze Zeit?"
„Ich war immer da, du Nulpe!“ tobte er. „Red keinen Blech, Mann!“
Nulpe! So nannte mich mal eine Jungbuchhändlerin, mit der ich einige Zeit zusammen war. Hat der Buddha etwa alles mitbekommen? Ein scheußlicher Gedanke.
„Du hast ja nen Knall“, sagte er. „Ich war nie in Berlin. Was ist das: Berlin?“
Ich sagte, er hätte Berliner Schimpfworte verwendet. Woher er die wohl kenne?
„Du gehst mir auf den Sack, Mann! Halt die Klappe!“
Er sprang auf den Kaminsims und hielt seinen Hintern in die aufsteigenden Wärme.
So ordinär war es in meiner Berliner Wohnung nun doch nicht zugegangen. Wahrscheinlich hatte er sich während meiner Abwesenheit auf den Straßen herumgetrieben. Am besten ich ignoriere ihn, dachte
ich.
Als ich mit dem Aufwischen fertig war, sah ich auf den Wecker. Vier Uhr morgens. Den Schlaf fortzusetzen, dazu war es zu spät. Ich brühte mir einen Kaffee, ein Gang zum Brunnen war nicht
notwendig, es war ja genug Wasser da. Dann saß ich in der Küche am bullernden Herd und erklärte dem Troll, ich sei längst aus dem Alter, um mich mit so was wie einem Troll abzugeben, jetzt würden
mich erwachsene Dinge beschäftigen und darum würde ich ihn im Wald freilassen. Es sei denn, er verwandele sich wieder zum Buddha und bliebe auch ein Buddha.
„Freilassen? So ein Quatsch. Ich bin frei!“
Und dann sauste er an der Wand entlang, machte einen Salto auf den Tisch und erstarrte neben meiner Schreibmaschine. Den ganzen Tag sagte er nichts und rührte sich nicht. Sehr schön.
Es hörte nicht auf zu regnen, und Gunnar kam nicht. Ohnehin hätten wir im Regen auf dem Dach nicht arbeiten können. Schon am Morgen hatte ich ein Kaminfeuer entfacht. Am Abend wurde es gemütlich.
Das Licht vom prasselnden Kaminfeuer wechselte mit den zuckenden Schatten an den Hüttenwänden, friedlich lag das ruhige sanfte Leuchten der Petroleumlampe auf dem Tisch, fast melodisch wie ein
Xylophon klang das Geräusch der fallenden Tropfen in die Schüsseln und Blechdosen, und die Figur neben meiner Schreibmaschine war nur ein Stück altes Holz aus einer Zeit vor 20 Jahren.
Am nächsten Tag hatte die Sonne überhaupt nichts an! Frühstück vor der Hütte, und dann kam Gunnar, kurz darauf hatte er Nägel im Mund und ich den ersten Holzsplitter in der Hand. Wir nagelten
Lattenreihen aufs Dach. Und wie immer sangen Gunnars Nägel bei jedem Schlag, während meine sich vor Schmerz krümmten.
10
Es war Mittag. Die Blockhütte stand im Sonnenlicht am unteren Ende einer Wiese, fast in den Wald gedrückt, als wollte sie sich verstecken. Sie hatte weder Strom, noch Wasser, auch keine
Toilette.
„Aber drinnen ist sie perfekt..“ hatte Gunnar gestern gesagt.
Drinnen, das waren ein großes Zimmer, eine winzige Kammer und die Küche. Statt eines Bettes lag auf dem Zimmerboden eine Matratze mit Schlafsack, das Bett sollte noch geliefert werden. Vor dem
einzigen Fenster zur Ostseite ein Holztisch mit Stuhl. Kein Schrank, aber eine kleine Kommode und neben der Tür in Kopfhöhe ein Brett mit Kleiderhaken. Sonst nur frei liegende Balkenwände. Dafür
gab es neben dem Küchendurchgang den Luxus eines offenen Kamins.
In der Küche ein gusseiserner Herd, ein Esstisch mit Schublade, zwei Stühle und ein kleiner Hängeschrank für Geschirr, Töpfe usw. sowie eine große Plastikschüssel zum Waschen im Ausguss, der
nicht benutzt werden durfte. Das gebrauchte Wasser sollte ich vor die Hütte kippen.
„Perfekt, was?“
Etwa 15 m von der Hütte entfernt, schon ein paar Schritte im Wald, befand sich das Plumpsklo. In der Wiesenmitte, in der Nähe einer Kastanie, war ein ummauerter Ziehbrunnen. Mit einer Kurbelwalze
wurde der angekettete Eimer hinab gelassen, gefüllt wieder herauf gezogen und das Wasser in den mitgebrachten Blecheimer gegossen.
Als ich mich nachmittags an den Schreibstich setzte, stutzte ich. Da stand eine Buddhafigur und sah kein bisschen anders aus als in meiner Berliner Wohnung. Ich beklopfte sie mit dem Knöchel,
schüttelte sie, hauchte sie an. Nichts. Ich stellte die Figur wieder hin.
Also was ist, wirst du nun Troll oder nicht?
Ich wartete. Aber die Figur rührte sich nicht. Sie war eben doch nur ein Stück Holz und ziemlich unnütz. Vielleicht sollte ich sie wieder als Briefbeschwerer nutzen?
Auch der nächste Tag war fantastisch: blauer Himmel mit Sonne. Mittags stand die Wärme in der Hütte, es roch nach Holz, die Gardinen hatte ich zugezogen, nur die gefilterte Sonne drang
herein. Der Raum dämmrig wie geträumtes Wasser. Darin winzige Sonnensplitter wie Goldfische. Wenn sich die Gardinen bewegten (ich hatte die Fenster zur Wiesenseite geöffnet), zogen Lichtwellen
durch die Hütte wie das Bauchmuster eines Hechts.
Gunnar, von einer Regenankündigung im Wetterbericht aufgescheucht, kam mit dem Rad und nagelte die letzten Latten. Ich reichte ihm die Dachziegel. Wir beeilten uns und und schafften es, das halbe
Dach zu decken.
Feierabend. Die Petroleumlampe auf dem Tisch gab ein mattes Licht. Hinter mir, rechts vom Küchenzugang, brannte das Kaminfeuer. Schwarz die Hüttentür, die beiden schmalen Fenster darin glichen
Eulenaugen, in denen das Grün der Wiese leuchtete, langsam dunkelten sie und die Nacht begann. Im Lichtkreis des gelben Glaszylinders sitzend, montierte ich ein neues Farbband in die
Schreibmaschine.
11
Das mit dem Bett zog sich in, ich lag immer noch auf der Matratze in meinem Schlafsack. Wer weiß, ob das überhaupt noch in diesem Sommer klappte. Die Hütte, so hatte Lisa, Gunnars Frau,
wohlweislich beschlossen, sollte erst im nächsten Jahr an Sommergäste vermietet werden.
Nachts lief eine Maus mehrmals an der Wand vorbei, in meiner Kopfhöhe. Gunnar gab mir einen verrosteten Drahtkäfig. Er war strikt gegen das Töten mit einer – wie er es nannte – Hinrichtungsfalle.
Seine Zuneigung zu allen Lebewesen war manchmal erschreckend. Einmal beobachtete ich, wie auf seinem nackten Arm eine Bremse landete. Anstatt sie wegzuscheuchen, ließ er sie sitzen und sah mit
verträumtem Blick zu, wie sie sich voll Blut saugte.
Am nächsten Morgen saß die Maus im Käfig. Tief im Wald ließ ich sie frei. Aber schon in der folgenden Nacht war sie wieder da und ich musste die Prozedur mit dem Käfig und dem Aussetzen
wiederholen. Das geschah noch dreimal, dann gab ich es auf und verlangte von Gunnar, die Matratze hochzustellen, damit ich die Maus nachts nicht im Gesicht hätte.
Er wiegte seinen halb kahlen Schädel hin und her. Stunden später kam ein Bauer mit Trecker und lud zwei uralte, mit Hühnerdreck verschmutzte Holztische vom Hänger. Ich reinigte sie mit heißem
Wasser und Bürste. Nachdem sie auf der Wiese in der Sonne getrocknet waren, schob sie Gunnar im Hüttenzimmer aneinander, bedeckte sie mit Zeitungspapier und legte die Matratze darauf.
„Siehst du! Perfekt.“
„Ist doch viel zu hoch! Soll ich mir im Schlaf den Hals brechen?“
Er seufzte und halbierte die Tischbeine mit seiner Handsäge. Erstaunlicherweise wackelte keiner der beiden Tische.
Perfekt.
12
„Du hast einen Buddha?“
Er hatte den Troll in der Hand .
„Das ist doch kein Buddha!“ sagte ich. „Erkennst du ihn nicht? Das ist der Troll, den du mir geschenkt hast, als wir mit Kore und Sven-Gösta im Wald waren. Erinnerst du dich?“
„Klar erinnere ich mich. Aber du hast ihn bei deiner Abreise vergessen und Lisa hat ihn zum Brennholz genommen. Der ist längst Asche. Aber sag mal, was hast du für den bezahlt?“ Er drehte die
Figur und besah sie sich von allen Seiten. „Der ist niemals indische Eiche. Pass mal auf..“ Und schon hatte er das Falunmesser aus der Lederscheide an seinem Gürtel gezogen und wollte ins Holz
schneiden. Der Troll schnellte aus seiner Hand und verschwand.
„So was... Ist mir aus der Hand geflutscht. Aber ich sag dir, das ist eine billig Imitation. Hast dir da was Hübsches andrehen lassen.“ Er steckte das Messer zurück. „Komm! Zum See! Das Netz
auslegen!“
„Gleich“, sagte ich und wartete, bis er draußen war.
Humpelnd kam der Troll unter der Kommode hervor. Seine Augen brannten vor Zorn.
„Er wollte mir was abschneiden!“
„Du warst ja ein Buddha,“ sagte ich. „Selber schuld! Das hast du von deinen Tricks!“
„Auch bei einem Buddha tut man so was nicht!“
In diesem Moment kam Gunnar herein. „Wo bleibst du?“ Und dann mit einem Blick in die Runde. „Mit wem redest du?“
Was machte der Troll? Still saß er da, eine Buddhafigur.
„Mit mir selbst“, sagte ich
Gunnar war meinem Blick gefolgt.
„Du glaubst es mir nicht, was?“ Er trat an den Tisch und griff sich den Troll. „Hier... Sieh mal den Einschnitt. Das ist Kiefer, keine indische Eiche. Schmeiß den Schund weg.“ Er stellte den
Buddha zurück. „Und jetzt komm schuften, du Schuft.“
Er liebte solche Wortspiele.
Kurz darauf ruderte ich über den See, Gunnar, am Heck stehend, ließ das Netz durch die Hände gleiten.
13
Gunnar hatte die Stimme des Trolls nicht gehört, offenbar konnte nur ich sie hören, und so wunderte ich mich gar nicht, als in nächster Zeit der Troll mit mir sprach, obwohl jemand anderes
zugegen war. Allerdings konnte ich nicht antworten, das hätte merkwürdig ausgesehen, und das nutzte der Troll aus. War er schlecht gelaunt, belegte er mich mit Schimpfworten, das war zu ertragen.
Anders, wenn er auf meine Vergangenheit zu sprechen kam. Tatsächlich hatte er alles in Gestalt des Buddhas mit erlebt, was in meiner Wohnung passiert war. Am liebsten brachte er mir meine
Liebschaften in Erinnerung, die kein gutes Ende gefunden hatten.
Einmal wurde er ganz bissig. Das war, als Gunnar und ich in der Küche saßen, Kaffee tranken und meinen frisch gebackenen Sandkuchen aßen. Während Gunnar mir die europäischen Baumarten erklärte,
er war das reinste Lexikon, hörte ich von nebenan die Stimme des Trolls, ich sei auf der Suche nach einer Traumfrau, die es nicht gäbe, jedenfalls nicht für mich, dazu sei ich zu blöd.
Ich durfte nicht antworten, ich beschloss einfach nicht hinzuhören, aber er hatte diesmal eine besonders spitze Stimme, die durchdrang Gunnars sanft gesprochenen Erklärungen und so war ich am
Ende blamiert, als er mich einer Prüfung des Gehörten unterzog, ich wusste nichts, und er nannte mich „einen hoffnungslosen Fall“.
Eine nervöse Unruhe erfasste mich. Die hellen Nächte hatten begonnen.
Eines Nachmittags tauchte Gunnar auf und sagte, eine Studentin aus Westdeutschland hätte die Dalastuga für eine Woche gebucht.
„Guck doch mal vorbei. Vielleicht hat sie Probleme. Du kennst ja die Hütte.“
Und ob ich sie kannte. Vor gut zwanzig Jahren hatte ich ihm beim Bau der Blockhütte geholfen. Eine echte Holzfällerhütte. Ohne Strom und fließend Wasser. Und Plumpsklo!
Um 18 Uhr machte ich mich auf den Weg, neugierig auf die Studentin, aber auch auf den Ort, den ich als ganz jungen Mann gesehen hatte.
Mannshohe Wacholderbäume überall und von der Hütte am Fuß der Wiese war nur der Dachgiebel sichtbar. Wo war das Auto der Studentin? Ich sah es nicht. Vermutlich stand es außerhalb der Wiese im
Wald. Ich lehnte das Rad an einen Baum und folgte dem Pfad. Schon nach wenigen Metern roch ich den Rauch. Ich beeilte mich.
Ein Fenster war geöffnet, um den Rauch abzuführen. In der Hütte war es dämmrig, auf dem Kaminsims brannte eine Kerze, die Studentin stand davor, schulterlanges, dunkelblondes Haar und Augen, die
mich verstört ansahen. Qualm quoll aus der Kaminöffnung. Sie hatte vergessen, in der Wand den Schieber heraus zu ziehen. Mit ihm schließt man den Schornstein, wenn die Hütte nicht benutzt wird.
Ich zog ihn bis zum Anschlag heraus, schob mit dem Feuerhaken die Scheite auseinander, damit sie Luft bekamen. Sofort flammte das Feuer auf.
Die Studentin hatte sich neben mich gehockt, bis jetzt hatte sie kein Wort gesagt, nicht einmal auf meine Begrüßung hatte sie geantwortet. Das war merkwürdig, aber ich dachte, es ist der
Schrecken. Ihr Mund war leicht geöffnet, ihre Augen glänzten. Mir fiel auf, wie rot ihre Wangen waren. Sie schwieg noch immer. Sie war doch nicht stumm? Vielleicht störte es sie, dass ich sie
duzte. Aber das war in Schweden üblich. Um die Stimmung zu entspannen, begann ich über die Hütte zu reden, an der ich mitgebaut hätte, wobei wir noch immer nebeneinander kauerten und in die
Flammen sahen. Plötzlich reichte sie mir die Hand, ohne mir das Gesicht zuzuwenden, ich ergriff sie. Sie war weich und lag vertrauensvoll in meiner, als erwarte sie etwas von mir. Aber was? Ich
wusste nicht, was ich tun sollte, so drückte ich ihre Hand und gab sie frei. Eine Strähne war ihr ins Gesicht gefallen. Inzwischen brannte das Kaminfeuer, ich stand auf, sie ebenso, ich sagte,
sie würde sich bestimmt wohlfühlen, man lebe hier im Einklang mit der Natur und meine Ferienhütte läge nicht weit von hier, ich käme morgen kurz vorbei, um zu sehen, ob alles in Ordnung sei.
Stumm stand sie da, den Blick aufs Feuer gerichtet, dessen Licht auf ihre geröteten Wangen fiel. Im Halbdunkel zeichnete sich ihr Körper ab. Sie muss ein sehr dünnes Kleid getragen haben, denn
ich sah deutlich ihre Rundungen. Etwas rührte mich an, für einen Moment fühlte ich mich benommen. Ein wenig hastig verabschiedete ich mich.
Auf dem Heimweg fragte ich mich, wie sie das in dieser primitiven Hütte aushalten wollte. Und dass sie nichts gesagt hatte, nicht einmal „danke", das war schon merkwürdig.
Ich musste sie unbedingt morgen aufsuchen.
14
Als ich am nächsten Morgen mit dem Blecheimer Wasser aus dem Brunnen holen wollte, um mir einen Kaffee zu brühen, kam mir der Gedanke, der Kastanie einen Besuch abzustatten. Täglich sahen wir
uns, auf stumme Weise begrüßten wir uns jeden Morgen, aber diesmal hatte ich das Bedürfnis, mit dem Baum zu reden. Gunnar hatte es mir vorgemacht. Auf sämtliche Fensterbretter des Hauses stellte
er ab März Töpfe mit seinen über den Winter hochgezogenen Tomatenpflanzen. Beim regelmäßigen Wässern flüsterte er mit ihnen. Sie gediehen so gut, dass er sie schon Ende April ins Treibhaus
bringen konnte, wo sie im Laufe des Sommers große Früchte bekamen.
Also ist es nicht abwegig, wenn ich mal mit einem Baum rede. Ich ließ den Eimer am Brunnen stehen, trat zur Kastanie und sagte, den Blick abwechselnd auf den Stamm und seine Krone richtend: „Hör
mal, ich rede jetzt zu dir. Mit dem Troll zu reden hat keinen Sinn. Alles nur Blödsinn. Also.. Sieh mal, ich habe ein Problem. Ich fasse dich an. Du sagst keinen Mucks, natürlich nicht, aber ich
spüre dich. Fest und rau und .. ein bisschen warm. Dich gibt es, das ist der Beweis. Damit sollte man doch glücklich sein? Oder?“
Plötzlich hatte ich die aberwitzige Vorstellung, auch Hände könnten träumen. Schöne Geschichte. Damit stellt man ja alles infrage!
Für solche Augenblicke, wenn das Gehirn im Leerlauf durchdreht, hielt Gunnar einen schlichten Rat bereit. Arbeite! Tomaten gießen! Holz hacken!
Also marschierte ich zum Brunnen, versenkte den Eimer ins Wasser und kurbelte ihn hoch. Tatsächlich ein wohltuender und beruhigender Vorgang.
Doch als ich den überschwappenden Eimer zur Hütte trug, dachte ich: Wohin bin ich nur versunken? In welchem Morast stecke ich?
Mittags, ich trank in der Küche schon wieder Kaffee, lutschte schwedische Schokolade – und dies nicht nur, weil sie mir schmeckte, sondern weil auf der Verpackung „Mit Lecithin“ stand, was ja die
Nerven stärken soll – als ich ein Fahrrad klappern hörte. Ich dachte an Gunnar und trat mit der Tasse vor die Tür. Sie war es! Da stand sie, das Rad an die Hüfte gelehnt und so, wie ich sie heute
morgen gesehen hatte. Wie konnte sie mit dem Kleid Rad fahren und dazu noch barfuß!
Sie begann sofort zu sprechen, als würden wir uns schon lange kennen. Und, Gott sei Dank, so aus der Nähe betrachtet war sie gar nicht atemberaubend schön, sie war hübsch, ja, aber nicht
ungewöhnlich hübsch. Bis auf die nackten Füße war alles an ihr normal. Vielleicht war sie mir am Hang deswegen so bestürzend schön vorgekommen, weil ich noch nie eine unbekannte Frau
im Wald gesehen hatte.
In ihren Augen lag ein belustigter Blick, der, selbst wenn er spöttisch gemeint sein sollte, mich froh stimmte.
„Ich wollte dir zeigen, was ich im Wald suche, schau mal.“ sagte sie. Sie ließ mich in den geflochtenen Korb auf dem Gepäckträger blicken, darin befanden sich Papierschachteln mit
Preiselbeerblättern, nach Farben sortiert, rote, dunkelrote, hell rote,gelbe, auch grüne, dunkelgrüne und schwarze
„Was machst du damit?“ frage ich.
„Besuch mich, ich zeig es dir..“
Und dann setzte sie sich aufs Rad, zog das Kleid über das linke angewinkelte Bein bis an die Hüfte und radelte davon.
„Ja, die kenn ich“, sagte der Troll. „Vergiss sie. Sie ist nicht normal.“
Das hätte er nicht sagen sollen. Jetzt musste ich sie erst recht besuchen. Von Gunnar erfuhr ich, wer sie war und wo sie ihre Sommerhütte hatte. Eine Finnin sei sie, Beatrice Waltari mit Namen,
sie hätte sich vor zwei Jahren ein Sommerhaus bauen lassen am Ende eines alten Holzweges, nicht weit von meiner Hütte.
Am Nachmittag machte ich mich auf den Weg. Einen Kilometer die Straße lang, dann einen Hügel hoch. Der Holzweg war mittlerweile asphaltiert, er endete auf einem Plateau, dem ehemaligen Wendeplatz
für die Holztransporte. Dort stand das Haus: ein typisch småländisches Holzhaus mit roter Fassade und weißen Schmuckbrettern an den Fenster, den Hausecken und den Giebeln. Etwas abseits eine
Garage.
Sie freute mich, als ich eintrat, das sah ich ihr an. Nach kurzer Begrüßung führte sie mich hinauf ins Dachgeschoss mit zwei Räumen: einer war ein Schlafzimmer, der andere ein Atelier
mit drei bis auf den Parkettboden gezogenen Dachfenstern. An der Balkendecke hing Treibholz vom See. Im Wasser hatten die Aststücke ihre Rinde verloren, durch Austrocknen wurden sie knochenweiß
und federleicht. Sie waren so geschickt an unsichtbaren Fäden befestigt, dass sie im leisesten Luftzug wie auf Wasser dümpelten. Vor einem der Dachfenster lag auf Holzböcken eine lange Platte mit
Stapeln weißen Kartons vom Postkartenformat bis zur DIN-A-4-Größe. Dazu eine Reihe von Glasschüsseln mit Preiselbeerblättern, nach Farben sortiert, außerdem ein Becher mit kleinen Scheren und
Pinzetten. Ein Karton mit einem Mosaik aus den winzigen Blättern war in Arbeit. Es sah aus wie ein Sonnenaufgang auf einem fremden Planeten.
„Nein“, sagte sie und lachte, „kein Sonnenuntergang. Auf einem fremden Planeten, ja das könnte stimmen. Denn er hat keinen Himmel. Es gibt nämliche keine blauen Preiselbeerblätter. Aber
vielleicht wird es auch noch was anderes, noch sind sie nicht festgeklebt. Bitte nicht pusten!“
Sie öffnete ein dickes Buch auf, das sie als Presse benutzte, entnahm ihm ein Mosaikbild in Postkartengröße und schenkte es mir. Es zeigte eine Birke auf einer Wiese. Der weiße Stamm
war ausgesparte Kartonfläche mit ein paar schwarzen Blättern. Das Laub des Baumes war hellgrün, der Himmel war fast schwarz mit gelben Punkten. So entstand der Eindruck, auf der Wiese
herrsche der Tag, am Himmel die Nacht. Ein mystisches Bild.
Dann gingen wir hinunter in den Wohnbereich mit den durchweg weißen Möbeln. Ihre Küche wolle sie mir lieber nicht zeigen, sagte sie, es sei eine reine Hexenküche. Sie habe den Ehrgeiz, nur mit
Stoffen aus der Natur zu arbeiten. So versuche sie aus Blaubeeren blaue Farbe zu gewinnen, aus Kirschen rote, und das Grün wolle sie aus Brennnesseln sintern. Allerdings sei noch alles im
Experimentierstadium. Mit den Farben würde sie dann Aquarelle malen.
„Und woher willst du Schwarz bekommen?“ fragte ich.
„Du hast doch sicher auch verkohltes Holz im Kamin“, meinte sie. Anschließend lud sie mich zu einem Glas Rotwein ein. In einer Sitzecke plauderten wir noch eine Weile über Farben in der Natur,
über ihren Zweck und ihre Wirkung. Und dabei blickten wir uns in die Augen, als gelte es ihre Farben zu prüfen. Die dunkelbraune Iris ihrer Augen verschmolz mit der Pupille, das machte die Augen
groß und anziehend. Übrigens sprach sie mehr als ich, denn ich fürchtete, Flecken auf dem plüschigen Weiß zu machen. Gefesselt vom Schwarz ihrer Augen und der Farbe des Weines, konnte ich mich
kaum rühren.
Als ich ging, bedankte ich mich für die Einladung und vor allem für das Mosaik.
Auf dem Rückweg hätte ich singen können. Ihr Geschenk begeisterte mich, gleichzeitig wurmte es mich. Es war persönlich und originell... Was konnte ich da schon bieten? Irgendwie
musste ich mich revanchieren.
15
Der Bauer, der die beiden Tische geliefert hatte, brachte mir auf seinem Hänger ein uraltes Holzbett. Wir luden es ab und stellten es in der Hütte auf. Ich fragte ihn, ob er die Tische wieder
haben wollte. Mit einem schrägen Blick registrierte er die halbierten Beine. Nein, er brauche sie nicht, ich könne sie verheizen. Dann streifte er mit einem Blick meinen Schreibtisch, verharrte
für zwei, drei Sekunden auf der Buddhafigur. Mich ritt der Teufel und ich fragte, ob er einen Troll sähe.Verwundert sah mich der Bauer an, sein Vollbartbusch öffnete sich und heraus dröhnte seine
Stimme: „Das sitzt er doch oder?!“
Und er zeigte auf den Buddha auf meinem Schreibtisch.
„Der da?“ fragte ich verblüfft und nahm den Buddha in die Hand.
„Sieht doch aus wie ein Troll.“ Als genügte das nicht oder als müsste er mit seinem Wissen auftrumpfen, setzte er hinzu: „Ein norwegischer Troll. Gibt es zu kaufen.“
Ich schwieg. Das war ja nun wirklich was Neues. Der Troll spielte mit dem Bauern wie er es mit mir tat! Aber dann machte ich einen Fehler. Um dem Troll zu zeigen, dass ich ihn durchschaut hatte,
sagte ich zu ihm: „Und jetzt beweg dich.“ Er rührte sich nicht. „Wirst du wohl mal einen deiner verdammten Hüpfer machen?“ Keine Wirkung. Als ich dem Bauer erklärte, der Troll wolle mich nur
ärgern, hatte der es plötzlich eilig, sich zu verabschieden.
Kaum war er draußen, wurde aus dem Buddha der Troll, er sprang aus meiner Hand und kicherte.
„Der Alte hat noch nie einen Buddha gesehen! Der hält jeden Buddha für einen Troll!“
„Verdammt!“ sagte ich wütend. „Warum musst du dich verstellen? Warum bleibst du nicht einfach das, was du bist?“
Der Troll hob seine krallige Pfote.
„Sag mir nicht, was ich bin! Das bestimme ich!“
Kurz darauf kam Gunnar, um sich von der Lieferung des Bettes zu überzeugen. Wir plauderten ein wenig. Merkwürdig fahrig war das Gespräch. Als er ging, sagte er plötzlich: „Ich verteidige dich,
keine Sorge.“ Bedeutungsvoll sah er mich an. „Ich bin dein Freund!“ Was sollte das? Gerade wollte er aufs Rad steigen, da wendete er sich mir noch einmal zu und sagte: „Die Studentin ist
gestorben. Gestern Abend.. Tragisch..“ Krähte „Hejho!“ und radelte davon.
Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Ich hatte sie doch in der Hütte getroffen! Für einen Moment wollte ich sofort in die Klinik fahren, um sie zu sehen. Aber dann scheute ich zurück.
Niemandem würde ich die Begegnung mit ihr erklären können. Und ich fürchtete mich, ja, ich hatte sogar Angst. Ich wollte nicht wissen, ob meine Fantasie Grenzen durchbricht oder meine
Empfindsamkeit mir etwas vormacht. Denn was wäre ich? Ja, was wäre ich ich? Und dennoch. Ich spürte einen Schmerz, als hätte ich, als ich der Studentin ihre Hand zurück gab, etwas
Kostbares verschwendet.
Die nächsten Tage war ich auf der Suche nach Preiselbeersträuchern mit farbigen Blättern. Rote, gelbe und schwarze in allen Schattierungen. Das war gar nicht so einfach, es gibt sie nicht oft.
Und außerdem kriecht der Zwergstrauch über den Waldboden, man muss sich tief bücken, oft ging ich sogar in die Knie. Manch ein Blatt war nur zum Teil farbig, ich pflückte es trotzdem. Man kann ja
das Grün abschneiden, dachte ich. Die Blätter waren wie aus Leder und glänzten lackiert. Inmitten ihrer dunkelgrünen Artgenossen wirkten sie fremd, andersartig, wenn nicht gar abartig. Vielleicht
waren sie mit einer seltenen Krankheit geschlagen. Es war mühsam und ich fragte mich, was wohl anstrengender sei: das Suchen oder das Kleben dieser Blätter. Die gesammelten Blätter wollte ich ihr
bei einem Besuch zu überreichen. Übrigens waren die Beeren noch weiß, erst im August würden sie rot und reif zum Pflücken sein.
Ich weiß nicht, ob ich es unbewusst wollte. Aber am ersten Tag geriet ich in die Nähe ihres Grundstückes. Da ich nun schon mal dort war, wollte ich einen Blick auf das Haus werfen. Ich näherte
mich von der Seite, und da sah ich sie im Garten in einer Hängematte liegen. Genau genommen sah ich nur ihre nackten Beine. Ihre Zehen bewegten sich, und die Hängematte schaukelte ganz sanft. Ich
konnte den Blick nicht von ihren Zehen lösen, sie schienen miteinander zu spielen, wahrscheinlich betrachtete auch sie gerade ihre Zehen. Ich wollte zu ihr, dann schoss mir durch den Kopf, sie
könnte nackt sein. Ich machte kehrt und verdrückte mich.
Am folgenden Tag ging ich wieder auf Blättersuche, ich hatte noch nicht genug, die Briefumschläge sollten gut gefüllt sein. Diesmal wählte ich eine Richtung, die mich garantiert von ihrem Haus
entfernte. Und dann begegnete ich ihr doch. Wieder sah sie mich nicht, während ich sie wie gestern beobachten konnte.
Jenseits einer Kuhweide, vorbei am Wald, radelte sie über einen Weg, den ich nie genommen hatte, weil er kniehoch zugewachsen und bestimmt sehr schwer zu befahren war. Aber sie hatte ihn gewählt,
diesmal trug sie einen gelben Rock, dazu eine kurze braune Jacke, wahrscheinlich eine Lederjacke, ihr schulterlanges Haar flog hin und her. Sie radelte stehend. Sicher, weil es viel Kraft
kostete, durch das Gestrüpp zu fahren. Und dabei hielt sie sich kerzengerade... Ich dachte: Was für eine stolze, schöne, lebenslustige Frau!
Das musste ich jemandem mitteilen und da kein anderer da war, erzählte ich es dem Troll: „Und was sie mit den winzigen Blättern macht.. Einfach großartig. Und sie läuft am liebsten barfuß.. Auch
im Wald!“
Troll: „Sie trägt Sandalen. Schau genau hin. Sie sind bloß durchsichtig. Plastik, du Esel.“
„Wenn ich genau hinsehe, ist vielleicht die ganze Frau durchsichtig.“
Troll: „Das wäre das Beste für dich .. Mann, du bist verliebt.“
„Mach dich nicht lustig über mich!“
Troll: „Es ist die Frau, die du gesucht hast. Selber schuld.“
Danach schrieb ich ein Gedicht.
„Du schreibst ihr was?“ Zum ersten Mal flüsterte der Troll. „Mir hast du noch nie was geschrieben..“
Ich schwieg. Stimmte ja. Aber warum sollte ich ihm ein Gedicht schreiben?
„Liebst du mich etwas nicht..“
War da ein jämmerlicher Klang in der Stimme? Was für ein Theater. Ich lachte.
„Dann will ich dir etwas sagen!“ Jetzt war es der Troll, wie ich ihn kannte. Zornig. Wütend. Bissig. „Du hast dich gewundert,dass sie keine Schramme an den Beinen hat? Dass sie barfuß durch den
Wald geht? Quatsch mit Soße! Sie ist eine Einbildung. Eine Zauberei von mir! Sie heißt in Wirklichkeit Fata Morgana. Und jetzt nehm ich sie dir jetzt weg! Husch!“ Er machte mit der Pfote einen
Kreis. „Da ist sie hin..“
Der Bursche ist einfach eifersüchtig.
„Du spinnst ja!“
„Sehr witzig. Besser kann man nicht daneben zielen“, brummte er und dann aufkreischend: „Mach dich auf die Socken! Überzeug dich!“
Eine Fata Morgana? Und wenn schon. Eine Fata Morgana ist eine Spiegelung von etwas Wirklichem, es befindet sich nur nicht in der Nähe, sondern in der Ferne. Da kann man hinkommen! Übrigens hatte
ich ein Birkenbild von ihr. Sie gibt es also. Wo war das Bild? Ich fand es nicht. Egal.
Morgen besuche ich sie.
16
Es war kurz nach 11, ich nahm das Papierblatt mit dem Gedicht, dazu die drei Couverts mit den Preiselbeerblättern und lief los. Ja, ich lief, ich pfiff auf das Rad, ich nahm den kurzen Weg quer
durch den Wald..
Durch Gebüsch und Fichtendickicht, über Stock und Stein bahnte ich mir den Weg. Ich lief und lief, ich spürte beim Laufen die Berührung der Fichtennadeln an Händen und Gesicht, es war eine
Berührung der Gewalt, aber aus Zuneigung, und es fühlte sich gut an...Alles geträumt? Es war die pure Wirklichkeit.
Zuerst sah ich einen geparkten Wagen mit Berliner Kennzeichen. Einen teuren Schlitten, einen Mercedes. Dann sah ich sie.
Und dann erblickte sie mich.
Sie lachte auf und rief mich heran. Ich zerknüllte das Gedicht, stopfte es in die Jeanstasche und ging auf die beiden zu. Er hatte ein Glatze, dicke Brauen und Augen, die aufmerksam, aber
zugleich leutselig mich betrachteten.
„Sie sind bestimmt der mit dem Troll?“ Er sagte das ohne Spott. „Meine Frau hat mir viel von Ihnen erzählt. Sie ist Ihnen nicht unähnlich. Sie spielt gern die Märchenhafte.“
Sie stieß ihn lächelnd an.
Auch ich lächelte und dachte: Der Mann ist genau die Art Mensch, gegen die ich einmal demonstriert habe. Geschäftsmann, Makler, Kapitalist. ..Und dann sah ich, sie geht gar nicht barfuß.
Sie trägt Sandalen aus durchsichtigem Kunststoff.
Ich spürte mein eigenes Lächeln. Es freute mich.
Sie luden mich zu einem Glas Wein ein, aber ich verabschiedete mich. Ich sei beim Packen, sagte ich, denn ich würde nach Deutschland zurückkehren.
Bevor ich in den Wald trat, sah ich mich noch einmal um. Da stand das Auto. In der Windschutzscheibe funkelte die Sonne. Etwas Außerirdisches war hier gelandet.
Vor der Hütte traf ich Gunnar. Er wollte mit mir eintreten. Ich sagte, nein, es ginge nicht.
„Warum?“
„Ich muss packen“, sagte ich. „Ich reise morgen ab..“
„Was willst du in der Stadt? Hier ist es doch viel schöner.“
„Und wie soll ich mein Geld verdienen?“
„Du hast doch Holzfäller gelernt..“
Was für eine Idee.
In der Hütte fand ich auf dem Schreibtisch das Birkenbild.
Der Troll hatte es für mich hingelegt.
„Was ist?“
„Es gibt Schönheiten“, sagte ich, „denen sollte man lieber nicht begegnen.“
„Du hältst mich für schön?“
„Ja“, sagte ich, „und darum müssen wir uns trennen.“
Ich griff ihn und trug ihn tief in den Wald, tiefer als damals, als ich die Maus aussetzte.
„Ich will aber mit!“, schrie er.
„Ich werde dich besuchen,“ antwortete ich. „sobald ich wieder mal in Schweden bin.“
Darauf schwieg er. Ichs setzte ihn in ein Nest von Kiefernnadeln und Laub.
Auf dem Rückweg begegnete mir ein Wildschwein, ein paar Schritte von mir entfernt stand es und sah mich an. Wir betrachteten uns eine Weile, dann ging ich weiter.
Ich bin sicher, es war der Troll.
Eine Minute später schrie ein Eichelhäher in meiner Nähe, es heißt, Eichelhäher sind die Polizisten des Waldes, sie warnen die anderen Tiere. Auch das musste mein Troll gewesen sein.
Und als ich auf die Lichtung von meiner Hütte trat, sah ich hoch am Himmel einen Habicht kreisen. Er war es, mein Troll.
Am Abend kam Gunnar noch einmal mit seinem Rad angeklappert.
„In der DDR gibt es Unruhen“, sagte er, „wer weiß, was noch passiert. Vielleicht Bürgerkrieg. Und du bist dann mitten drin!“
Ich glaube, es war noch einmal ein Versuch, mich in Schweden zu halten.Aber genau das rief mich wieder nach Berlin wie vor 20 Jahren. Damals war es der Westen mit seinen Studentenunruhen, jetzt
war es der Osten mit der Bürgerbewegung.
Beim Abschied gab ich ihm die Briefumschläge mit den Preiselbeerblättern.
„Für die Finnin.“
Er kniff ein Auge zu, nickte und radelte davon. Ich setzte mich auf die Holzbank vor der Hütte. Über dem Wald war noch das Glimmen der versunkenen Sonne. Ich schloss die Augen, ich sah die in der
Sonne blitzende Windschutzscheibe und in den Armen meiner Traumfrau lag ein anderer Mann. Seltsam, ich lächelte schon wieder.
Und dann fiel mir die letzte Strophe des Gedichtes ein, das ich ihr hatte schenken wollen.
Heimgekehrt nach langer Reise
leb ich ohne Zeit,
leg ins Feuer wechselweise
Traum und Fichtenscheit.
Ja, mein Lieber, aber jetzt ist Schluss damit!
Der Bus nach Halmstad war voll besetzt. Die meisten waren Dörfler, die am Kaffeetisch nur wenig über ein Jaso oder Jaha hinaus kamen. Diesmal riefen sie sich über alle Sitze hinweg etwas
zu. In der DDR gäbe es Demonstrationen, immer mehr Menschen gingen auf die Straße, sie verlangten Freiheit, die Regierung zeige sich machtlos... Man erwarte eine Revolution..
Willkommen in der fantastischen Wirklichkeit.