Seit dem Frühling genoss ich wieder die Einsamkeit in meiner Hütte, was Gunnar nicht hinderte, mich jeden Tag anzurufen, um mir den Wetterbericht für den nächsten Tag durchzugeben. An einem
Nachmittag im August klingelte wie erwartet das Telefon. Aber diesmal war es anders. Kein Wetterbericht. Begeistert berichtete Gunnar von einer großen Reise, ja, die größte in seinem Leben,
geplant für das nächste Jahr.
„Stell dir vor! Mit der transsibirischen Eisenbahn nach China! Ich war schon im Reisebüro. Es dauert noch ein bisschen. Ich brauch besondere Einreisepapiere. Aber darum kümmern die sich. Was
sagst du dazu?“
Er war glücklich, das hörte ich an seiner Stimme. Und natürlich gratulierte ich ihm. China... Davon träumte er schon seit seiner Jugend. Und ohne dass wir es erwähnen mussten, wussten wir beide,
dass es seine letzte große Reise sein würde.
Zwei Tage später – es war ein Samstagabend – klingelte das Telefon. Als ich den Hörer abhob, hörte ich stockendes Flüstern. Es war Gunnar. Ich verstand kein Wort.
„Sensation!“ Pause. Dann wieder: „Sensation!“
„Was ist los? Red lauter!“
Und dann erfuhr ich, er hätte auf seinem Waldspaziergang die Einbrecherbande entdeckt.
„Du hast doch die Nachrichten gehört?“
Ja, richtig. Es wurde von einer Bande gewarnt, die in leer stehende Ferienhäuser einbrach, das Inventar stahl und spurlos verschwand.
Auf dem Weg zum Wald, um einen Vogelkasten aufzuhängen, war er an einem verfallenen Haus vorbei gekommen. Seit vielen Jahren war es unbewohnt Heute sah er in einem Fenster Bewegung und auf
der Wiese nahe der Einfahrt stand ein Auto. Er blickte hinein. Die Rücksitze waren komplett ausgebaut.
„Weißt du, was das heißt? Das ist eine fantastisch gute Ladefläche für Diebesgut, kannst du mir glauben!"
Er näherte sich dem Haus, öffnete vorsichtig die Tür, trat ein und noch ehe er reagieren konnte, sprang ein riesiger dunkelhäutiger Kerl mit geschwungenen Fäusten auf ihn zu.
Gunnar reagierte, als stünde er einem schnaubenden Bullen gegenüber, hob die Hände, sagte "Ruhig, nur ruhig, ich tu dir nichts.... ", wich rückwärts zur Tür, „und dabei..", er holte tief
Luft, „hab ich in die Hose gemacht!"
Er lief davon, klingelte die Polizei an und berichtete von dem Einbrechernest. Die sagten, sie könnten erst am Montag einen Wagen schicken.
Danach schlich er in den Heizungskeller seines Sohnes und warf seine Unterhose in den Ofen.
Als ich den Hörer auflegte, grinste ich. Ich stellte mir vor, wie er in seiner dreisten, unbändigen Neugier die Tür öffnete und sagen will: „Hej, Mann, was machst du hier?“ Und dann bekommt er
eine so heftige Abfuhr, wie er sie noch nie erlebt hatte.
Am Montag,11 Uhr, wieder Gunnars Stimme, diesmal vergnügt, sogar ein wenig überdreht.
Ein Streifenwagen sei dagewesen, mit zwei Polizisten. Er wollte mit ihnen zu der Diebesbande fahren, aber sie meinten, sie könnten die Arbeit ohne ihn besser machen. Na, jedenfalls würde den
Kerlen jetzt das Handwerk gelegt! Und dann wollte er wissen, ob ich ihn besuche.
Ja, am Nachmittag, sagte ich.
Ich fand ihn in großer Erregung vor. Die Polizei hätte niemanden im Haus gefunden, es sei leer gewesen, auch von einem Auto sei nichts zu sehen gewesen. Er bekam eine Verwarnung wegen Irreführung
der Polizei.
Erregt schlurfte er im Zimmer herum, grollend und grummelnd, in den Pausen stöhnte er auf. Das, was ihm passiert war, beschämte ihn und kränkte ihn tief. Er, der eine Klapperschlange mit einem
Stein totgeschlagen hatte, in den Alpen ohne Seil auf die Berggipfel geklettert war und wie viele Seen und Flüsse hatte er durchschwommen, kein anderer hatte den Mut dazu. Und jetzt... Und dann
lassen sie die Halunken auch noch laufen!
Plötzlich blieb er vor seinem Schreibtisch stehen, wühlte unter alten Zeitungen sein Finnenmesser hervor, schob die Scheide mit dem Messer an seinen Jeansgürtel.
Ich fragte, was er vorhatte.
Er meinte, es bliebe ihm nichts anderes übrig, er müsse die Sache selbst in die Hand zu nehmen.
„Ich werde ihnen die Reifen zerstechen“, knurrte er, „die haun doch ab, die Schweinehunde, aber das werde ich verhindern, sollst du sehen!“
Noch nie hatte ich ihn so erregt gesehen und ich dachte, ich muss mitgehen, um Schlimmeres zu verhüten. Aber wahrscheinlich, so hoffte ich, gibt es gar keine Einbrecherbande und mit ihm ist bloß
die Fantasie durchgegangen.
Minuten später radelten wir zu dem verwilderten Grundstück, stellten die Räder an eine Heck und schlichen zur Einfahrt.
Tatsächlich stand im kniehohen Gras ein brauner Pkw, nach meinen geringen Kenntnissen ein Mazda. Das Haus war eine Hütte, das linke Fenster auf der Frontseite war mit Brettern zugenagelt,
das rechte halb geöffnet. Der Dachfirst hing durch, auch fehlten Dachziegel, so dass es hineinregnen konnte, und am Hauseingang baumelte ein verwittertes Zierbrett, jeden Augenblick konnte
es herunterfallen.
„Da verstecken sich die Mörder!“ flüsterte er.
Wenn er zornig war, übertrieb er und so waren aus Einbrechern jetzt Mörder geworden.
Ich musste zugeben, auch mir kam die Sache nicht geheuer vor und ich verstand die Polizei nicht. Sind die wirklich hingefahren?
Gerade wollte ich ihm sagen, dass wir lieber verschwinden sollten. Es könnten sich ja mehrere Männer im Haus befinden, aber es war schon zu spät.
Geduckt lief er zum Wagen, das Falun-Messer mit rotem Holzgriff wippte auf seinem Gesäß. Wie überlegt er an die Sache heranging, sah ich daran, dass er auf die linke Seite des Autos pirschte, so
gab ihm der Wagen Sichtschutz. Er warf noch übers Autodach einen Blick aufs Haus, nichts rührte sich dort, dann verschwand sein Kopf.
In diesem Moment ging die Haustür ächzend auf und eine riesige Gestalt sauste, fast schien sie zu fliegen, über die Wiese auf das Auto zu. Das geschah völlig lautlos, aber Gunnar musste etwas
geahnt haben. Sein Kopf kam wieder hoch, sekundenlang starrten sich beide an, der Mann und Gunnar.
Und dann geschah etwas Seltsames. Der Mann sagte etwas und dann öffnete er die Wagentür.
Zu meiner Überraschung stieg Gunnar ohne zu zögern ein. Der Mann setzte sich ans Steue, ich hörte keinen Anlasser. Als der Wagen an mir vorbei fuhr, beugte ich mich zum Fenster.
Gunnar lächelte. Er hob die Hand, mir schien, sein Mund formte ein „Hejdo!“.. Ich versuchte, den Fahrer zu erkennen, aber Gunnar verdeckte ihn. Und dann sauste der Wagen, eine Staubfahne
hinter sich herziehend.
Ich verstand es nicht. Es gab keinen Streit, nicht einmal ein Gespräch. Vielleicht kannten sie sich? Aber warum ließ Gunnar nicht anhalten, um mir zu sagen, wer es ist und wohin sie fahren?
Andererseits - denn auch das war so seine Art - ging er seiner Familie früher oft „verloren". Ohne sich abzumelden, verschwand er für ein paar Tage und war plötzlich wieder da mit
leuchtenden Augen und einem Sack voller Geschichten.
Ich sah mir die Stelle an, wo der Wagen geparkt hatte. Im Gras lag das Finnenmesser. Sein roter Holzgriff war abgenutzt und die Klinge durch vieles Schleifen schmaler geworden. Ein Småländer
wirft nichts weg, erst recht nicht ein Messer. Ich wollte es seinem Sohn bringen und ihn über das Wegfahren seines Vaters informieren.
Ich traf ihn neben der Garage bei der Arbeit mit der Kettensäge. Er schaltete die Säge aus und klappte das Visier des Holzfällerhelms hoch.
„Was gibt's?“
Ich sagte ihm, sein Vater sei mit einem unbekannten Mann davongefahren, und dann erzählte ich ihm auch noch die Vorgeschichte. Ich konnte beobachten, wie auf seinem verschwitzten Gesicht
das Erstaunen wuchs. Schließlich war ihm die Verblüffung so deutlich anzumerken, dass ich ihn fragte, ob er mir etwa nicht glaube?
Er schwieg und lächelte höflich.
„Jaso.. Bitteschön. Hier, sein Messer, es lag beim Auto.“
Ein kurzer Blick.
„Na, du weißt doch", sagte er, sich das Gesicht mit einem Tuch wischend, „er geht dort gern spazieren. Er hat es wohl verloren.“
Bevor ich widersprechen konnte, fügte er hinzu: „Übrigens.. Noch vor ein fünf Minuten schüttelte er auf der Treppe seine Sofadecke aus. Ich hab es selbst gesehen.“
Er senkte den Blick. Da begriff ich. Die Polizei hat ihn schon informiert und gemahnt, auf seinen Vater aufzupassen. Und jetzt kommt auch noch dessen Freund, der alte Deutsche, und erzählt einen
ähnlichen Blödsinn.
Ich stieg aufs Rad.
In diesem Moment rief er: „Warte, wir gehen mal hin.“ und hängte den Helm an einen Haken der Garagenwand. Offenbar hatte das Finnenmesser doch so etwas wie Zweifel in ihm geweckt.
Es war ein kurzer Weg zum Haus seines Vaters, etwa hundert Meter. Gunnars rosa farbiges Damenfahrrad stand im Fahrradständer vorm Haus. Ich dachte sofot: Wer hat das Rad hierher gebracht?
In der Schnelligkeit?
Da hörte ich drinnen Lasse rufen: „Hej, Papa, Besuch! Wach auf!“
Ich müsste mich sehr irren, wenn seine Stimme nicht triumphierend klang.
Ich trat ins Zimmer. Gunnar saß eingeschlafen in seinem grünen abgewetzten Ohrensessel, das Kinn auf der Brust, der Fernseher lief.
Lasse klopfte ihm auf die Schulter. Er konnte ihn gerade noch auffangen.
Vielleicht um mich zu beruhigen, sagte Lasse: „Weißt du, so hat er sich das immer gewünscht. Vorm Fernseher, bei seiner Lieblingssendung weggehen.“
„Er ist nicht weggegangen", sagte ich wütend, „verdammt, er ist weggefahren. Ob du es glaubst oder nicht: Ich habe es gesehen! Er ist weggefahren im Auto eines Chinesen!“
Lange und mit einem leichten Bedauern sah mich Lasse an.
Plötzlich wurde mir klar, ich hätte das alles nicht sehen sollen.
Noch am selben Abend fuhr ich zurück nach Deutschland.