Wir kamen aus Bremen, der Stadt der Pfeffersäcke, nach Westberlin. Sigi brachte total, die Literarische Illustrierte mit. Er war schon eine kleine Berühmtheit: die
Post hatte die Beförderung seiner Zeitschrift wegen Pornographie verweigert, die Presse bezeichnete ihn als Deutschlands jüngsten Verleger. Dabei sei die Abbildung reine Kunst gewesen,
versicherte er mir und blickte treuherzig durch seine Brille.
In Berlin-Friedenau mietete ich in der Bennigsenstraße, dicht an der Hauptstraße, eine Ladenwohnung – der Laden war eine Leihbücherei mit einem Schaufenster und
angeschlossener 2-Zimmerwohnung, ziemlich dunkel und nur mit Kohle beheizbar. Weil Sigi seinen „total-hirsch-verlag“ mit ein bringen wollte, nannten wir den Buchladen
„total-büchershop“.
Die Umgestaltung des Verkaufsraumes ging rasch und problemlos. Wir überklebten die Flecken an den Tapeten mit Poster. Als erstes ein großformatiges: „Die erogenen
Zonen der Frau“. Kleine rote Pfeile wiesen bei einer nackten Frau auf die entsprechenden Stel len. Gleich daneben klebte ich – in der Meinung, wir dürften das Erotische nicht das Politische
überwiegen lassen – ein Plakat mit den Gren zumrissen der DDR, auf dem stand in fetter Schrift: „Die erogene Zone“. Es blieb nicht das einzige Plakat dieser Art. Weil die Springer-Zeitungen die
DDR mit Ausführungszeichen aus der Wirklichkeit wischen wollten und die Altberliner noch immer von der Zone sprachen, wenn sie die DDR meinten, tauchten in kurzer Zeit weitere solche Plakate
auf. Eines war aus Kar ton, 2 m lang und zusamenklappbar. Klappte man es auseinander, zeigte es zwei nur mit Stulpenstiefeln bekleidete junge Frauen, Rücken an Rücken stehend. Auf der
rechten kurzhaarigen, stramm brüstigen Frau waren die Buchstaben „DDR“ zu lesen, und auf der linken Brust, die über den Kartonrand ragte, stand „Berlin“. Die andere Frau war die BRD-Frau, und
über beiden Frauenköpfen standen zwei Sprechblasen, die DDR-Frau sagte: „Willste?“ Und die BRD-Frau antwortete: „Deinetwegen werd ich doch nicht pervers werden!“
Der Text stammte von Wolfgang Neuß und war, wie der Klappentext bemerkte, Berlins Beitrag zur Wiedervereinigung: den zänkischen Schwes tern auf den Leibge
schrieben.
Und dazu die Poster der Haschrebellen: farben prächtige Visionen, kauernde Gestalten vor der fernen unter gehenden Sonne, Blüten dschungel und darin wandelnde
Beatnikpoeten wie Allen Ginsberg, manchmal waren es auch bloß Sprüche, auf den ersten Blick sinnlos oder komisch, blieben aber oft im Ge dächtnis haften: sie hatten eine empfindliche Stelle bei
dir ge troffen oder einen schlafen den Hund in dir ge weckt.
Aber auf einmal kamen Schüler und wollten die Poster kaufen. Aufs angenehmste überrascht, spannten wir im Ladenraum Schnüre kreuz und quer, klemmten daran Plakate
und Fotodrucke, und schließlich war es sogar für uns sichtbar: Lenin, Marx, Che Guevarra und Albert Einstein (der mit der herausgestreckten Zunge) verbreiteten in Friedenau die Revolution. Und
so verkauften wir zuerst mehr Poster als Bücher.
,,Ihr seid ganz schön mutig", sagte eine Friedenauer Studentin, die mal kurz herein blickte. Wir waren erstaunt. Davon wussten wir nichts. Bis ich eines Morgens
wie immer die Ladentür aufschloss und in der Schaufensterauslage auf den Bü chern Glasscherben und einen Pflasterstein liegen sah. Und das Schaufens ter hatte ein präch tiges
Loch.
„Ein zusätzliches Guckloch“, sagte Sigi, „und eine tolle Werbung!“
Er griff zum Telefon, um es den Berliner Zeitungen mitzuteilen.
Wenige Straßen weiter wohnte Gün ter Grass. Wir erfuhren das zufällig und dachten, er würde be stimmt mal in unserer Buchhandlung aufkreuzen. Tat er aber nicht.
Und das mag an Sigis Zeitschrift gelegen haben, deren Redakteur Klaus M. Rarisch den Dichter der Blechtrommel mit Texten und Karikaturen polemisch angriff. Ich sah Grass nur einmal. Das war
auf dem Wochenmarkt vorm Friedenauer Rathaus. Et was verlo ren und, wie mir schien, schlecht gelaunt stand er in einem grauen Wintermantel neben seiner Frau bei einem Gemüsestand. In der
rechten Hand hielt er ein Einkaufsnetz mit zwei Lauchstan gen.
Sigi war sicher, mit ihm kollegial verkehren zu können und bezog ganz in der Nähe der Grass-Wohnung eine Einzimmer wohnung in einem Hinterhof. Und behauptete
danach, er brauche nur auf die Mülltonne zu steigen, dann könne er über die Mauer in die Woh nung von Gün ter Grass sehen.